„Auszeit im Paradies“ von Lisa Torberg


Jade Jackson liebt Schafe – und ihren Job. Ihre Facharztausbildung im größten Krankenhaus ihrer Heimatstadt Las Vegas nähert sich dem Ende, als ein für Notärzte kaum nennenswerter Vorfall ihr die Freude an ihrem Beruf raubt. Ihr Bruder versucht, sie mit einem weiteren Schaf für ihre Sammlung aufzumuntern. Es hat ein Einhorn und ist in Zeitungspapier eingeschlagen, eine Anzeige ist rot eingekringelt. Spontan wie nie zuvor tauscht Jade die Wüstenstadt in Nevada gegen die atemberaubende Natur Neuseelands, die sterile Notfallambulanz gegen eine Schaffarm. Auszeit im Paradies! Schafe, wohin das Auge reicht, drei Monate als Gesellschafterin der liebenswerten Patricia Wedding und ihre vier Söhne, die Jade wie eine Schwester behandeln. Dass zwischen Samuel und ihr die Luft knistert, ignoriert sie standhaft, denn der Countdown bis zur Heimreise läuft.

Sich fallen lassen, eintauchen, träumen, genießen, lachen und lieben. Lisa Torberg entführt Sie auf die Südinsel Neuseelands, zwischen Gletscherseen und schneebedeckte Gipfel der Südalpen und saftig grüne Weiden, von denen man die grasenden Schafe pflücken kann. Dort, wo die hellsten Sterne des Himmels das Kreuz des Südens bilden und Träume so nah sind, dass man nur die Hand ausstrecken muss, um sie festzuhalten.

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Leseprobe

Noch bevor Jade das Ende des langen Flurs erreichte, spürte sie den ersten Schweißtropfen in ihrem Nacken. Die Sommerhitze hatte Las Vegas seit Monaten in ihren Klauen. Sie fuhr mit den Fingern das um ihren Hals hängende Lanyard entlang abwärts, griff nach dem Badge und hielt ihn vor den Sensor. Das Gerät piepste – und irgendwer rief ihren Namen. Nur das nicht! Während der endlosen Schicht in der Notaufnahme hatte sie genug geredet. Jetzt sehnte sie sich nach einer erfrischenden Dusche, Schlabberklamotten und eiskaltem Tee. Sie lief los und durch die aufschwingende Tür auf den Parkplatz. Der heiße Wind blies den feinen Sand aus der Mojave-Wüste wie ein potenzierter Laubbläser durch die Straßen. Sie kniff die Augen zusammen, zerrte die Schultertasche an ihre Brust, versenkte die Hand darin und tastete blind nach der Sonnenbrille. Mit der geübten Geste, die jedem Bewohner Nevadas von klein auf in Fleisch und Blut überging, klappte sie die Bügel auf und schob sie auf die Nase. Im selben Moment rief erneut jemand nach ihr. Himmel hilf!
»Jade, verdammt! Es ist zu heiß für ein Wettrennen.«
»Dein Problem, nicht meines«, konterte sie, als sie die Stimme erkannte. Einerseits war sie erleichtert, weil sie keinen nervigen Kollegen abwimmeln musste, andererseits dennoch genervt. Sie wollte weg von hier. Weg aus dem Emergency Room des University Medical Center, weg von ihrem Job, den sie bis vor einigen Wochen geliebt hatte.
Jeff holte sie ein. »Dein vorlautes Mundwerk wird dich irgendwann in des Teufels Küche bringen, Schwesterchen.«
»Danke, dort bin ich schon.«
»Shit, Kleines.« Jeffs Schultern sanken sichtbar nach unten.
»Nenn mich nicht so, dann komme ich mir vor wie die Fünfjährige mit den Zahnlücken.«
Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, aber es gelang ihm nicht so richtig. Er war verdammt attraktiv mit den blaugrünen Augen und den kinnlangen rostbraunen Haaren, die er offen trug, was bedeutete, dass auch er außer Dienst war. Abgesehen von der Haarlänge war die Ähnlichkeit zwischen ihnen unübersehbar. Heute noch mehr als sonst, denn Jade hätte ein Monatsgehalt darauf gewettet, dass er letzte Nacht nicht mehr geschlafen hatte als sie. Stand lediglich zur Diskussion, ob seine Augenringe dunkler waren oder ihre.
»Du wirst immer meine kleine Schwester bleiben, Jade, auch noch, wenn wir beide in fünfzig Jahren nebeneinander auf der Hollywoodschaukel hinterm Haus sitzen und über die Wüste blicken.«
»Schreckliche Vorstellung.« Ihr graute vor der Zukunft, auch vor der nahen. Erst recht davor.
»Aber nicht ganz so schlimm wie die, dass du mit irgendwem aus der Notaufnahme ein privates Wort wechseln könntest, richtig? Du bist rascher gerannt als ein Mojave-Ziesel.«
»Leider bin ich kein Erdhörnchen, Jeff. Wäre ich eines, hätte ich meine Höhle, in der ich mich verkriechen könnte.«
Jeff trat näher, schlang einen Arm um ihre Schultern, zog sie näher und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Schläfe. »Es tut mir so schrecklich leid, Jade. Du hättest den Einsatz nicht fahren dürfen. Es waren ausreichend Pfleger und Schwestern anwesend, die mit dem Rettungswagen mitfahren konnten. Ärzte sind in der Notaufnahme Mangelware.«
Sie sah zu ihm. »Es ist sinnlos, immer wieder darüber zu reden, Jeff. Ich war eine Viertelstunde vor Dienstbeginn da und verfügbar. Außerdem zählt für uns Assistenzärzte jede Erfahrung, das weißt du doch noch, oder? Es war ja nur ein simpler Einsatz.«
Hätte einer sein sollen. Reine Routine. Die Feuerwehr war bereits vor Ort und hatte mit den Löscharbeiten begonnen, als sie für den Notfallsanitäter einsprang, dessen Auge plötzlich aufgrund eines Insektenstichs zugeschwollen war, und alle anderen Rettungswagen im Einsatz waren. Sie sollten lediglich einen Jugendlichen abholen, der sich bei dem Sprung aus dem Fenster im zweiten Stock ein Bein gebrochen und beim Aufprall das Bewusstsein verloren hatte. Weshalb niemand zu der Zeit wusste, dass seine Großmutter noch drinnen war. Als der Junge zu sich kam, war es zu spät für die alte Frau im Rollstuhl. Jade hatte noch nie jemanden so verzweifelt und herzzerreißend schluchzen gehört wie ihn. Nicht einmal die Kojoten, die nachts unweit von ihrem Elternhaus in der Wüste heulen.
»War er nicht, Jade. Kein Einsatz ist simpel.« Jeff sah ihr tief in die Augen, ohne erneut auf den Vorfall einzugehen, der sie komplett aus der Bahn geworfen hatte. Sie wussten beide Bescheid. Es war eine Sache, Patienten in der Notaufnahme zu behandeln, eine andere, ein derart tragisches Ereignis hautnah mitzuerleben. Ihr Bruder drückte ihre Schulter mit der Hand, die immer noch dort lag, was sich gut anfühlte, obwohl es viel zu heiß für diese Nähe war. »Du kannst nicht so weitermachen, Jade.«
Nein, konnte sie nicht. »Wie, Jeff? Ich arbeite, esse und schlafe, wie immer.«
Er seufzte auf. »Früher warst du diejenige, die anderen hinterherrief und keine Gelegenheit ausließ, um dich nach einer harten Schicht noch mit Kollegen auf einen Drink zu treffen. Jetzt rennst du davon, als ob der Teufel hinter dir her wäre, sobald jemand deinen Namen ruft.« Sie setzte zu einem Widerspruch an, doch er ließ sie gar nicht zu Wort kommen. »Du machst seither Dienst nach Vorschrift, lächelst nie und sprichst nur das Nötigste.«
»Hat sich jemand beschwert?« Eine rhetorische Frage, denn selbst wenn: Es war ihr egal. Wie alles.
Jeff verneinte mit dem Kopf. »Natürlich nicht. Deine Leistungen als Ärztin liegen weit über dem Mittelmaß, daran hat sich nichts geändert, und nicht nur ich bin überzeugt davon, dass sie dir die Stelle als Nummer zwei der Notfallambulanz des UMC anbieten werden, sobald du die Facharztausbildung abschließt. Du bist der perfekte ER Doctor, Jade. Aber genau das ist auch der Grund, weshalb wir uns alle Sorgen um dich machen.«
»Ihr?« Sie zog fragend die Augenbrauen hoch. »Die meisten deiner Kollegen in der Kardiologie kennen mich doch gar nicht.«
»Dad, Mom, ich.«
»Schwachsinn.« Ihr Vater war ein professioneller Pokerspieler. Sein Normalleben fand zwischen den Turnieren statt, von denen es in Las Vegas so viele gab, dass Jeff und sie sich, sobald sie in die Pubertät kamen, fragten, wann ihre Eltern die Zeit gefunden hatten, sie beide zu produzieren. Wobei das Zeitproblem nicht weniger auch auf ihre Mutter zutraf. Sie führte das kleine Hotel, das ihr Vater in den Sechzigerjahren gegründet hatte, als die Stadt boomte und weit über die Mojave-Wüste hinaus bekannt wurde. Mittlerweile hatte sich die Zahl der damals sechzigtausend Einwohner verzehnfacht und stieg weiterhin rasant – mit ihren Eltern mittendrin. Joan und John Jackson gehörten der Urbevölkerung dieser künstlichen Stadt an, lebten für Las Vegas und arbeiteten wie etwa zwei Drittel der hier Ansässigen im Bereich der Casinos, Clubs, Bars, Restaurants, des Vergnügungstourismus generell. Unerklärlicherweise hatten sie zwei Kinder zur Welt gebracht, die beide nichts von all dem Glitter und Glamour und den stroboskopischen Lichtern wissen wollten.

[…]


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