„Nebenan“ von Verena Liebers


Es sind nur kurze Momente in den Stunden des Alltags, die den Blick der Protagonisten in diesem Buch verändern. Der Blick nach nebenan lässt sie Dinge erfahren, die sie an anderen Tagen unbemerkt verstreichen lassen: ein Kind, das die Töne des Klaviers in Farben sieht; eine Frau, die sich auf das Experiment der Isolation einlässt; ein Taucher, der in seinem Wunsch nach Sicherheit sein Heil auf einer kleinen Insel inmitten eines Flusses findet. Sie alle sind gewöhnlich in ihren Wesen und gleichzeitig doch ganz besonders.

Sei aufmerksam, flüstern die Erzählungen dem Leser zu, denn die wichtigen Dinge des Lebens geschehen nebenan.

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Leseprobe

Kongo (1. Kapitel)
Sieben Uhr, das rhythmische Piepsen des Weckers riss Frank Wollheim aus dem Schlaf und eine Sekunde lang erhaschte er die Illusion, sein Arbeitstag würde beginnen, dieses mühselige Ritual, das ihn mit einem Mantel aus Wichtigkeit umkleidete. So war es bisher. Seit sechs Wochen hatte dieser Mantel einen Riss. Da hatte ihn der Chef in sein Büro gebeten und dieser Typ aus der Kommunikationsberatung hatte neben ihm gesessen, der einige Wochen zuvor ins Haus gekommen war, um alle betrieblichen Prozesse zu verbessern, so stand es im Intranet. Eine der Verbesserungen bestand darin, Frank Wollheim zu entlassen, obwohl später in seinem Zeugnis zu lesen war, er sei ein hervorragender Mitarbeiter gewesen. Der Betrieb sollte verschlankt und verjüngt werden, lächelte der Kommunikationsberater, obwohl es nach Frank Wollheims Ansicht gar nichts zu lächeln gab. Mit seinen 42 Jahren fiel er offensichtlich schon durch das Raster, trotzdem sagte der Chef zum Abschied: „Sie sind ja noch jung, sie finden sicher bald etwas neues.“
„Na klar“, hatte Frank erwidert. „Ich freu mich erst Mal über ein bisschen Urlaub.“ Aber dabei hatte er seinen Ex-Chef nicht angesehen sondern nur das Fußbodenlaminat, das aus lauter schwarz-weißen Flecken bestand auf denen nie zu erkennen war, ob der Boden schmutzig war oder frisch geputzt. Abends hatte er seinen Wecker wieder gestellt, so wie jeden Tag zuvor, aber noch etwas genauer, diesen kleinen, grünen Plastikwecker, der schon seit zehn Jahren im Regal neben seinem Bett tickte. Sollte er nicht klingeln, wäre das gefährlich, dachte sich Frank sofort, der Tag könnte seine Struktur verlieren. Das stand doch immer so in der Zeitung, dass Arbeitslose aus dem Rhythmus kommen, deswegen wollte er das gleich ausschließen, schlauer sein, als die anderen. Das war auch der Grund, warum er sofort nach dem Weckerklingeln ins Bad ging, auch jetzt noch, lange nach seinem letzten Arbeitstag und obwohl es gar keinen Termin gab, der ihn dazu drängte. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, rasierte sich. Sehr konzentriert setzte er das surrende Elektrogerät an, um die blasse Haut von Kratzern zu verschonen und keine Bartstoppel zu übersehen. Er wollte ordentlich aussehen. Draußen regnete es, Wollheim stellte den Regenschirm an der Wohnungstür bereit, ehe er sich den Morgentee aufgoss, obwohl er das Haus vorläufig nicht verlassen musste. Er nahm grünen Tee, aber nur einen halben Teelöffel, denn dieser milde Oolong war sehr teuer und er wollte vorerst kein neues Paket kaufen. Frank Wollheim setzte sich mit seiner Teetasse an den Computer und suchte die drei Stellenportale systematisch durch, die er als Lesezeichen bereits fest auf dem Bildschirm verankert hatte. Das dauerte im Regelfall nicht länger als 15 Minuten, es kamen nicht jeden Tag neue Stellen dazu, jedenfalls keine von Interesse. Praktikanten wurden hier und dort gesucht, Volontäre. Frank Wollheim hatte studiert, vier Jahre Universität, danach 12 Jahre Berufserfahrung. Er war nie arbeitslos gewesen bisher, hatte nur einmal den Job gewechselt, weil er in die Nähe von Sarah ziehen wollte. Das war ganz problemlos gewesen, das mit der Stelle, mit Sarah war es allerdings nicht einfach und unterdessen sahen sie sich eher selten. Man konnte sich aus dem Weg gehen in der Stadt, das war nicht schwer.

[…]


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