In kurzen Episoden und Briefen erzählt Sybille B. Lindt ihre Geschichte weiter. Es folgen die Studienjahre in der lebendigen Studenten- und Messestadt Leipzig, eine Ostberliner Romanze und die Hochzeitsreise nach Warschau, die Geburt der Kinder, der Kampf um Krippenplätze und die eigene Wohnung sowie später auch um die höhere Bildung der Kinder und vieles mehr. Bespitzelung und Vertrauensverluste begleiten das tägliche Leben – bis endlich die Mauer fällt.
Die überaus authentisch geschilderten Ereignisse im Leben der Autorin bis in die 90er Jahre hinein, vermitteln ein Zeitdokument des Lebens in der DDR von Mitte der 60er Jahre an bis zu ihrem Ende.
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Leseprobe
Der Himmel hatte karmesinrote Flecken
„Schön, dieser Himmel. Ich liebe ihn“, rief ich hingerissen aus und wandte mich zu dem jungen Mann um, der sich neben mich an den Strand gesetzt hatte. Ich streckte und aalte mich im Sand, der nach der Tagesglut auch jetzt am Abend noch wärmte. Was sollte ich mit dem jungen Mann bloß anfangen? Er hatte sich beim Frühstück im Hotel an meinen Tisch gesetzt und klebte nun an mir. Offensichtlich stand er auf reifere Frauen. Mir war nicht nach Flirten, ich hatte vor einem Jahr meinen besten Freund verloren. Das war der erste Urlaub nach seinem Tod.
Wenn ich mit einem Verehrer nichts im Sinn hatte, sprach ich von Literatur oder las ihm Gedichte vor. Das schreckte die meisten ab.
Der junge Mann hatte auf meinen Ausruf noch nicht geantwortet. Jetzt sagte er: “Kennst du das Gedicht mit der Verszeile Der Himmel hatte karmesinrote Flecken von dem Dichter…? Der Name ist mir entfallen. Der Himmel heute erinnert mich an dieses Gedicht.“
Ich war überrascht und schaute den jungen Mann interessierter an.
„Du liest Gedichte?“, fragte ich etwas plump.
„Ja“, sagte er , „und ich schreibe auch Gedichte. Darf ich dir eines vorlesen?“
Ich runzelte die Stirn. Eigentlich war ich nicht in der Stimmung, mir die lyrischen Ergüsse von anderen Leuten anzuhören. Wenn vorgelesen wurde, dann wollte ich mich selbst produzieren, etwas von meinen Sachen lesen. Doch im Moment war ich einfach nur faul und wohlig warm, in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachsein. Und diesen Zustand wollte ich noch ein wenig auskosten hier am Meeresstrand bei Danzig.
Nach Danzig war ich gefahren, um die Geburtsstadt meines Vaters kennen zu lernen. Mitte der 70er, als Reisen nach Polen von Ostberlin aus noch möglich waren. Ich hatte in Danzig vor dem Haus gestanden, wo die unbekannten Großeltern gelebt und mein Vater aufgewachsen war, und mich mit den alten Leuten dort in der ehemaligen Wohnung unterhalten.
Doch heute bin ich in das berühmte Seebad Zoppot gefahren, hier am Strand entlanggelaufen, um ein stilles Plätzchen zu finden. Den ganzen Tag am Meer, mal in den Wellen, mal im warmen Sand.
Jetzt hatte mich der junge Verehrer vom Frühstückstisch gefunden. Wahrscheinlich erkannte er mich an den Zöpfen. Wenn ich im Urlaub war, flocht ich meine langen braunen Haare gern zu zwei Zöpfen. Der Mann war ein junger, gutaussehender Pole aus Krakau, etwa Anfang zwanzig, er sprach fast akzentfrei Deutsch. Was wollte er von mir? Ich war mindestens zehn Jahre älter. Was sollte ich jetzt tun? Ich war noch nie auf einen Mann gestoßen, der mit mir flirten wollte und mir dabei seine Gedichte vorlas. Ja, ich liebte Gedichte und poetische Geschichten. Aber ich wollte dem jungen Mann keine Hoffnungen machen. Doch vielleicht war er gut?
„Na, lies mal vor“, sagte ich lau interessiert.
„Der Himmel hatte karmesinrote Flecken…“, begann er und ich begab mich hinein in diese poetische Stimmung und schlief irgendwann selig ein. Als ich wieder erwachte, war es dunkel geworden, pechschwarz der Himmel, nur die Sterne blinkten. Neben mir lag der junge Mann und schlief, während er mich mit einem Arm umschlungen hielt. Was war passiert? War etwas passiert? Ich konnte mich an nichts anderes erinnern als an die Verszeile, mit der er begann: Der Himmel hatte karmesinrote Flecken …
Was immer passiert war. Ich würde diese Zeile wohl nie vergessen. Verlegen und ein bisschen wohlwollender sah ich mir den jungen Mann an, betrachtete ihn genauer. Eigentlich ein hübscher Bursche mit eindringlichen blauen Augen, jetzt geschlossen, welligem braunen Haar, eine sportlichen Figur und intelligent obendrein. Warum sollte es nicht auch einmal ein jüngerer Mann sein? Dieser Urlaub schien aufregend und wunderschön zu werden.
[…]
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