„Aus dem Hinterhalt“ von Christine Bendik


Aus einer Gruppe Obdachloser verschwindet ein junger Mann spurlos. Die Privatdetektive Jade Duncan und Paul Stroud stehen vor ihrem ersten gemeinsamen Fall. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, mit jedem Tag sinken die Chancen, Bobby zu finden. Besonders für Jade wird die Suche zum Alptraum: Der Vermisste ist ein alter Bekannter.

Der Leichenfund eines Mädchens führt die Ermittler auf eine heiße Fährte – direkt ins Rotlichtmilieu. In einem abgelegenen Bordell, wo das Mädchen lebte, verliert sich auch Bobbys Spur. Ist er der Mörder und auf der Flucht? Jade glaubt an seine Unschuld und will noch nicht aufgeben. Bei ihren Recherchen stoßen Paul und sie auf bittere Wahrheiten.

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Leseprobe

New York
Bobby
Abgehängt. Der Gedanke, der in seinem Schädel kreiste, hatte etwas von Endgültigkeit. Eingesperrt hatte man ihn, wie eine Ratte in einem dunklen Verlies. Eingesperrt und vergessen. Er blickte auf fensterlose Steinmauern, von denen das Schwitzwasser rann. Sein Magen knurrte. Man würde ihn hier verrecken lassen, den eiskalten Mädchenmörder, anstatt ihn der Polizei auszuliefern, das wurde von Stunde zu Stunde klarer. Anfangs hatte er regelmäßige Essensrationen erhalten – inzwischen fiel nur noch sehr sporadisch etwas durch die Luke zu ihm herunter.
Wieder versuchte er, sich zu erinnern. Er sah sich noch neben der Leiche des Mädchens knien, irgendwo an einem Stück Ufer im Park. Spürte den kräftigen Schlag auf den Hinterkopf und hörte sein Stöhnen, mit dem er zu Boden ging. Er hatte sich wieder aufgerappelt, den kalten Lauf einer Pistole im Rücken und der Typ mit der Sturmhaube hatte ihn wortlos durch den nächtlichen, fast menschenleeren Park gescheucht. Ihn später in den Kofferraum seines Wagens genötigt, ihm die Augen verbunden, ihm Hände und Füße gefesselt und ihm einen Knebel verpasst. Er hatte nur kurz seine Augen gesehen, Augen die ihn erinnerten an … Er schluckte hart und schüttelte den Kopf … Die ihn erinnerten an niemanden und nichts.
Wie mit einem fetten Edding schien sein Erinnerungsvermögen aus seinem Kopf gestrichen zu sein. Weder wusste er, wer er war, noch was ihn zu dieser schrecklichen Tat getrieben haben mochte.
Die Kraft verließ seinen Körper, das spürte er mit jeder weiteren Minute, die verrann. Nein, er fürchtete sich nicht vor dem Tod. Er fürchtete sich vor dem bisschen Leben, das ihm noch blieb. Seit gestern nichts mehr zu beißen gehabt außer einem trockenen Kanten Brot, dem man ihm wie einem räudigen Hund hingeschmissen hatte, und der Geruch des Rests Wassers in dem dreckigen Kanister dort auf dem Boden begann bereits dem Gestank seiner eigenen Exkremente im Eimer daneben zu ähneln.
Regungslos verfolgte er mit den Blicken den fetten Hirschkäfer in seinem rotbraun glänzenden Chitinmantel, der gleichfalls unfreiwillig hier hereingeraten sein musste, und er leckte sich über die Lippen und überlegte, ob er vielleicht … Aber das winzige Tier würde höchstens einen hohlen Zahn füllen.
Über ihm fielen einzelne Sonnenstrahlen durch die verriegelte Luke, zu wenig, um etwas Wärme zu spenden, und er schloss reflexartig die geschwollenen Lider. Ein Geräusch ließ ihn wieder aufschrecken. Stimmen oder nein, nur ein Husten. Zum gefühlt hundertsten Mal in diesen dunklen Stunden klopfte sein Herz schneller, fasste er einen Funken Mut. Er stieß einen spitzen Schrei aus in dem Versuch, sich bäuchlings unter die etwa drei Meter entfernte Falltüre zu schieben und sich bemerkbar zu machen. Fluchend hielt er inne. Er war kein Arzt, aber das hohle Knacken, das seinen Sturz in dieses Loch hier begleitet hatte, dazu dieser reißende Schmerz, bedeuteten mindestens einen Bruch des rechten Unterschenkelknochens.
»Hallo«, rief er, mit schwacher Stimme. »Ist da wer?« Niemand antwortete, die Geräusche waren verstummt, und er spürte, wie eine eiskalte Träne seine Wange herabrollte. Jaulend zog er sich wieder in seine Ecke zurück. Die Kälte des rohen Bodens kroch ihm bis unter den Hosenstoff und seine Zähne klapperten hart aufeinander.
Im Grunde hatte er es verdient, so zu enden. Warum hatte er dieses Mädchen getötet? Hatte sie noch etwas gesagt? Ihn angesehen mit flehenden Augen: Tu’s nicht? Hatte er ihr vorher Gewalt angetan, hatten vielleicht seine schmutzigen Triebe gesiegt?
Er ließ dem albernen Kichern ungebremst seinen Lauf. Dem Wahnsinn, der sich in seinem verdorrenden Hirn ausbreitete wie ein schleichendes Gift – als plötzlich Bildfetzen vor ihm aufflammten. Bruchstückhafte Erinnerungen, mitten aus dem Inwood Hill Park, bei den alten Indianerhöhlen.
Später Abend. Die Gesänge der Straßenmusikanten waren verstummt, nur ein paar Junkies noch auf einem der verlassenen Spielplätze ganz in der Nähe. Eine Wolke Cannabis wehte zu ihm herüber, krautig und erdig, doch er konzentrierte sich auf den frischen Duft der uralten Kiefern und Eichen. In der grünen Lunge im Herzen New Yorks blühte auch er richtig auf, hatte einer wie er wirklich Ruhe und nichts zu befürchten von anderen Menschen, ganz im Gegensatz zum Aufenthalt in den Straßen Manhattans, unter den Brücken und in den Tunneln und Leitungsschächten der U-Bahnen.

[…]


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