„Das phantastische Antiquariat“ von Viola Eigenbrodt


Eine Liebesgeschichte aus Heidelberg

Unglaublich, was die Menschen alles als Lesezeichen in ihren Büchern verwenden – und darin vergessen: Fotos, Briefe, Postkarten, persönliche Notizen oder auch mal ein Flaschenetikett. Die Heidelberger Antiquarin Christine Hoffmann kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Zu den merkwürdigsten Fundstücken erzählt ihr ihr Kopf phantasievolle Geschichten. Die fallen, je nach Gegenstand, sehr unterschiedlich aus: Mal ist es eine romantische Liebesgeschichte mit einem Funken Magie, mal ein skurriles Märchen, ein tragisches Schicksal, eine Verkettung mysteriöser Zufälle oder eine dramatische Familiensaga, in der ein Drachen-Ei eine wichtige Rolle spielt.

Christines reales Leben ist eng verwoben mit ihren phantastischen Geschichten. Und ein Besuch in einem kleinen Berliner Antiquitätengeschäft könnte für sie alles verändern …

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Kennenlernen: Viola Eigenbrodt

Leseprobe

2. Kapitel
Aufräumen musste sie, aber ganz dringend, fand Christine. Jeder andere hätte ihren „Showroom“ mehr als ordentlich gefunden, aber sie störten ein paar liegen gebliebene Bücher, die die Kinder einer Nachbarin herausgezogen und nicht wieder einsortiert hatten. Ach, was war denn das? Eine uralte Ausgabe des „Struwwelpeters“. Sie hatte als Mädchen immer die Erzählung über die arme Pauline gegruselt.
Christine betrachtete die Bilder, setzte sich auf den Elefantenfuß zum Herumklettern und hatte auf einmal eine ganz andere Geschichte im Kopf.

1. Geschichte
Schon als Kind war Oliver an keinem Stöckchen vorbei gekommen, das als Werkzeug hätte verwendet werden können, ohne es aufzulesen und mitzunehmen. Kein Spielzeug überlebte lange, weil er es auseinanderschraubte, er wollte wissen, wie es funktionierte. Da er ohnehin nicht viel geschenkt bekam, fertigte er sich eben selbst welches. Er war sehr geschickt, neugierig und ausgesprochen klug. Schon damals fiel er auf mit seinen leuchtend grünen Augen und schwarzen Haaren, der später ein groß gewachsener Mann mit sehr breiten Schultern werden sollte, kräftig und stark wie ein Bär. Gleichzeitig war er schüchtern, vorsichtig, er kannte den Vulkan, der in ihm loderte und wollte diesen beherrschen. Seine Familie hatte ihm kein Vertrauen geben können, und so verschloss er sich, zu wertvoll und zu zart war das, was sich in seinem Inneren befand.
Das Leben bot ihm manche Chance, er fand eine Frau, er studierte und fand Arbeit, er hatte ein Herz für außergewöhnliche Maschinen und Fahrzeuge, er entwickelte Ideen und bildete sich stets weiter.
Doch das Misstrauen blieb ihm und so wurde er, trotz eines gewissen Charmes, immer einsamer. Menschliche Enttäuschungen drängten ihn zurück in sein Schneckenhaus und er verschloss sich sogar gegenüber seiner Frau. Sie war nicht der Typ zum Kämpfen, fand nicht die richtige Strategie, die ihn hätte wieder öffnen können und ging nun ihrerseits auf Distanz. Die Ehe zerbrach, der Mann zerbrach – beinahe. Sein tiefer Glaube bewahrte ihn vor dem Schlimmsten, aber er blieb einsam. Er fühlte sich und er war tatsächlich unverstanden. Sein Hirn war wie der Schaltkreis eines hochkomplexen Motors, ein Irrgarten, ein Labyrinth, dem er manchmal selbst nicht entkam. Seinen Forscherdrang gab er für einen Brotjob her und zog sich in sich und die Welt seiner Fantasie zurück.
Dabei war eine seiner größten Ängste, wirtschaftlich vor die Hunde zu gehen, wie er es in seiner engsten Familie hatte erleben müssen. Ihn rettete neben seinem Ingenieursgenie auch sein Händchen für Finanzen und so gelang es ihm, trotz recht geringen Gehalts, mehrere Liegenschaften zu erwerben. Seine Vorliebe für Frankreich machte sich in verschiedenen Ausfertigungen der legendären „Ente“ bemerkbar, die er, zur Freude der Spaziergänger im nahe gelegenen Park, um sein Häuschen drapiert hatte.
Das Haus wiederum war, wie beinahe alles, was sich in Olivers Besitz befand, auffallend. Es stand an der höchsten Stelle des kleinen Dorfs, das vor gut dreihundert Jahren Menschen gegründet hatten, die wegen ihres Glaubens aus ihrer Heimat vertrieben worden waren.
Sie waren über ganz Deutschland verteilt, hier an dieser Stelle hatte ihnen der Landgraf ein Stückchen Erde geschenkt. Vorher hatte die Gruppe aus etwa zehn Familien in den tiefen Wäldern gehaust, von den Ureinwohnern als Holzdiebe verschrien. Die Wälder umgaben das Dorf bis zum heutigen Tag. Auch Olivers Haus war alt. Zwar nicht dreihundert Jahre, aber über die Hälfte dieser Zeit stand es nun schon da und schaute stolz über die umliegenden Dächer. Sein letzter Besitzer war verstorben und nun sollte es versteigert werden. Als Oliver es zum ersten Mal sah, glänzte es für ihn in der Sonne und er war sofort verliebt. Der Bank erschien er kreditwürdig und so konnte er das Häuschen, das unbedingt ihn wollte, leicht ersteigern.
Seit langer Zeit war Oliver endlich wieder einmal glücklich. Obwohl sein Palast von der Grundfläche nicht üppig war, hatte er doch viele Keller und Zimmer, einen Garten, einen scheunenähnlichen Anbau und eine Garage, die der „Jäger und Sammler“ mit all den Schätzen bis unter das Dach füllen konnte, die er im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Oliver konnte nichts wegwerfen, er kam auch an keinem Sperrmüll vorbei, ohne diesen gründlich zu durchforsten.
Was andere Menschen als Kram und Krempel ansahen, war für Oliver von Wert.
Er brauchte auch seinem Hexenhaus keine Seele zu geben, es hatte bereits eine und freute sich über die vielen Reichtümer, mit denen er es beschenkte. Vom tiefsten Keller, in dem Teile von drei auseinandergebauten VW Käfern ihre letzte Ruhe gefunden hatten, bis ganz nach oben, wo er unter den antiken Schindeln und Holzkonstruktionen seiner Leidenschaft als Kräuterexperte nachging, von Wohn- und Schlafzimmern, Küche, Bad und Terrasse, jede noch so winzige Ecke oder Stelle war bedeckt mit Sachen.
Endlich fühlte es sich wirklich gebraucht, keine Stelle wurde verschwendet, sondern bedeckt, es durfte sein, wie es war, und wurde nicht verändert.
Das Haus war nach seiner ersten Bestimmung hundert Jahre später noch einmal aufgestockt worden, so dass seine Küche nicht wie bei anderen Häusern im Erdgeschoß, sondern im ersten Stock lag und das Herz bildete. In ihr zu kochen vermochte ausschließlich Oliver, der übrigens ausgezeichnet Speisen zubereiten konnte, denn sie – ursprünglich eine schöne Einbauküche im Tiroler Bauernstil – war ebenfalls völlig zugeräumt.
Man robbte durch das Haus wie ein Indianer auf dem Schleichpfad, ein schmaler Treidelpfad führte von der Eingangsstiege durch sämtliche Räume, wobei man stets befürchten musste, an irgendetwas anzustoßen.
Das Haus wurde zur Gebärmutter, die ihn schütze, es war durch und durch weiblich. Es duldete keine anderen Götter neben sich, eine andere Frau schon gar nicht. Es brauchte keine Zentralheizung, um Oliver zu wärmen, ein alter Kachelofen tat seine Pflicht sehr gut.
Vor ihm saß der schöne, introvertierte Mann oft und träumte von den zärtlichen Händen einer weichen Frau. Doch das wusste die Casa Lignea nicht, wie sich das Haus nannte, das echtes Fachwerk als Skelett hatte und stolz auf seine natürliche Wärme war.
Sie bildeten eine Symbiose, er erhielt und fütterte sie, sie spendete die fehlende Leidenschaft und bot Schutz. Durch ihre Fenster schaute er mit großen Augen in die Welt, denn hier an der höchsten Stelle des Dorfes blieb ihm nichts verborgen. Schloss er die Fensterläden, war sie ganz intim und alleine mit ihm, niemand konnte ihre traute Zweisamkeit stören. Jedes Wochenende war er zuhause, er ging nicht aus und verlegte sich mehr und mehr auf virtuelle Begegnungen.
Nur zu seiner Arbeit fuhr mit seinem sehr alten R4, an dem er regelmäßig herumschraubte und werkelte. Auf ihn war die Casa Lignea gelegentlich etwas eifersüchtig, aber nur ein bisschen, denn ein Auto stellte für sie keine Konkurrenz dar.
Eines Tages jedoch blieb Oliver über Nacht weg. Genauer gesagt, sogar über zwei Nächte. An einem Samstagnachmittag war er losgezottelt und hatte seinen vom Onkel geerbten schweinsledernen Koffer gepackt. Das war ihr schon unangenehm aufgefallen, deswegen er hatte ihn lange auf dem Speicher suchen müssen. Obwohl sie das Gepäck sehr gut versteckt hatte, wurde es nach einigem Gefluche und Gesuche schließlich gefunden, Oliver packte nicht nur Unterzeugs, sondern auch ein paar Flaschen seines eigenen Weins ein. Ihm gehörten einige Hektar eines Weinberges in der Nähe.
Vielleicht war er eingeladen, tröstete sie sich, ab und zu kamen einige Gäste zum gemeinsamen Kochen. Wobei auch diese Unterhaltung längere Zeit nicht mehr stattgefunden hatte. Ihr Instinkt warnte sie und sie sollte recht behalten. Oliver kam völlig verändert zurück. Als Allererstes suchte er sein Mobiltelefon, das er seit Jahren nicht mehr benutzte.

[…]


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