„Die Grenze: Anne in Ostberlin“ von Detlev W. Crusius


Mai 1945, der Krieg ist zu Ende. Die deutschen Städte sind zerstört, die Menschen hungern, die Familien sind zerrissen. Anne lebt mit Richard in Berlin Spandau. Hilde, eine Freundin aus Kriegszeiten, verschafft ihr eine Anstellung im Polizeipräsidium und sie erleben Prozesse gegen NS-Verbrecher.

Das Leben in der DDR wird immer karger, das Plansoll der Betriebe wird drastisch erhöht. Am 17. Juni 1953 kommt es zu Aufständen. Anne ist in Güstrow bei ihren Eltern. Sie kann nicht zurück nach Westberlin, die Grenzen sind abgeriegelt. Ein Freund ihres Vaters bringt sie illegal an allen Kontrollen vorbei bis zur Sektorengrenze und sie überquert die Grenze nach Westberlin.

Trotz des Schießbefehls fliehen immer mehr Menschen in den Westen. Am 13. August 1961 beginnt man in Ostberlin mit dem Bau der Mauer, die viele Jahre das Leben in Deutschland bestimmen wird.

Grenzwall ist der 5. Band der Familiensaga.

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Kennenlernen: Detlev W. Crusius

Leseprobe

Checkpoint Charly 1995
Wenn ich an Berlin denke, dann sehe ich Checkpoint Charly vor mir. Im April 1953 verließen wir die DDR und reisten mit dem Zug in den Westen. Die Reise war als Erholungsreise meines Vaters nach Bad Saarow getarnt, einem Ort östlich von Berlin. Er litt unter Magenbluten. In meine Freistellung vom Schulunterricht hatte die Klassenlehrerin geschrieben, ich müsste die Stalinallee besichtigen. Josef Stalin war vier Wochen zuvor gestorben. Grund genug, vor Ferienbeginn nach Ostberlin zu reisen.
Wir fuhren nicht nach Bad Saarow, und ich besichtigte nicht die Stalinallee. Stattdessen überquerten wir illegal die Zonengrenze in der U-Bahn. Republikflucht nannte man das.
Entschuldigen Sie, Herr Volkspolizist, wir haben in der Station Friedrichstraße im Gedränge die Bahnsteige verwechselt und sind Richtung Westen und nicht nach Osten nach Bad Saarow gefahren.
Den Spruch wollte mein Vater dem Volkspolizisten mit treuherzigem Blick vorbeten, sollte man uns kontrollieren. Er hatte vor dem Spiegel geübt, ich hatte ihn belauscht.
Es hätte uns nicht gerettet. Meine Eltern wären im Gefängnis Hohenschönhausen gelandet und ich in einem Erziehungsheim für missratene Junge Pioniere. Wir wurden nicht kontrolliert. Die U-Bahn fuhr auf einen Tunnel zu, und ich sah an der Mauer neben der Einfahrt ein buntes Schild.
»Was ist das?«, fragte ich meinen Vater.
»Eine Coca-Cola-Reklame. Jetzt sind wir im Westen in Sicherheit.«

Die Grenze, die Mauer, die DDR gibt es nicht mehr und die Baracke mit der Bezeichnung Checkpoint Charly ist eine Gedenkstätte neben dem Mauermuseum. Mühsam reiße ich mich aus meinen Erinnerungen. Deutschland ist nicht mehr geteilt. Ist die Welt besser geworden? Sicherer ist sie nicht geworden. Immer wieder branden die Ausläufer des Kalten Krieges durch Deutschland. Warum durch Deutschland? Man erinnert uns damit an unsere schmutzige Vergangenheit.
Genug der Nostalgie. Morgen reise ich nach München und treffe Anne. Sie will mir den zweiten Teil ihrer Geschichte erzählen.

Wir saßen in Annes Wohnzimmer. Wie bei unseren vergangenen Treffen vor über einem Jahr stand eine Kanne Tee auf dem Tisch, Tassen, Zucker und ein Schälchen mit Zitronenscheiben. Sie deutete auf die Zitronen. »Der Arzt hat mir Zucker verboten und ich bin auf Zitronen umgestiegen. Schmeckt gut.«
Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Ein wundersames Ereignis gibt es und ich fang damit mal an. Du erinnerst dich an Elsie?«
»Ja, natürlich, deine Freundin in Berlin, die dich …«
Sie unterbrach mich. »Elsie hat mich gerettet, als Wilhelm mich beinahe umgebracht hat und ich aus seiner Wohnung geflüchtet bin. Sie hat mich über das Rote Kreuz ausfindig gemacht, wie ich meine Eltern in Güstrow gefunden habe. Ich habe vor Jahren meine Adresse beim Roten Kreuz hinterlassen. Vor ein paar Wochen ist Post von ihr gekommen. Sie hat 1943 die Flucht über Frankreich, Spanien und Lissabon geschafft, sie ist in Mexiko.«
Anne wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, lächelte erneut. »Glückstränen. Elsie wird mich bald besuchen, zusammen mit ihrer älteren Tochter. Sie hat zwei Töchter. Die jüngere Tochter hat gerade ein Baby bekommen, Elsie ist Großmutter geworden.«
Ihr Gesicht wurde nachdenklich, sie starrte in ihre Tasse, trank einen Schluck.
»Damit sind die frohen Nachrichten erschöpft, jetzt kommt nur noch Böses, Schrecken des Krieges und Tränen der Verzweiflung.«
Sie goss Tee ein, nahm eine Scheibe Zitrone aus der Schale und quetschte sie über meiner Tasse aus.
»Die bitteren Zitronen passen zu dem, was ich dir jetzt erzählen muss. Wir hatten die Bomben überlebt, das untergehende Dritte Reich und die Nazis, hatten ihre bestialischen Vorstellungen von der Endlösung ertragen. Wir waren nicht verhungert, haben uns gegenseitig immer wieder aufgerichtet.«
Wieder schwieg sie nachdenklich.
»Man hat Dinge überlebt, die man sich in seinen dunkelsten Albträumen nicht vorstellen kann. Dann fallen keine Bomben mehr, und alle denken – jetzt kann es nur besser werden.« Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Der Spruch: Genieße den Krieg, der Frieden wird fürchterlich, wurde in jenen Jahren zur bitteren Wahrheit.«

[…]


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