„Klang der Schritte“ von Verena Liebers


Student Benno ist orientierungslos zwischen all den Möglichkeiten, die sich beruflich und privat vor ihm ausbreiten. Was ist ihm wichtig, was will er wirklich? Gerade als ihn ein Todesfall ganz aus der Bahn wirft, taucht seine Tante Gesa aus Stade mit der Idee auf, gemeinsam für einen Marathon zu trainieren. Zögernd nimmt er die Einladung an, rennt und radelt mit der Tante vom Tidenkieker zu Hünengräbern, findet neue Freunde beim Training und deckt nebenher schließlich ein lang gehütetes Familiengeheimnis auf.

Ein Roman über Freundschaft, Liebe und die Kraft von Musik und Natur.

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Kennenlernen: Verena Liebers

Leseprobe

Myrina
Es roch nach Vanille, wenn sie Klavier spielte, nach Rosmarin und Vanille, wirklich, eine unmögliche Mischung, aber wenn sie die Tasten berührte, war der ganze Raum durchatmet von diesem Unmöglichen. Virtuos verwandelte sie C-Dur in b-Moll, als wäre das selbstverständlich, als gäbe es keine Paralleltonarten, kein a-Moll, das jeder erwartete, auch wenn er das nicht benennen konnte. Niemand war enttäuscht von dem Unerwarteten ihrer Kompositionen, weil es nie schräg oder sperrig klang, sondern die Zuhörer einfing wie das Aroma eines frisch gebackenen Kuchens, der betörende Duft eines Veilchens. So war sie: eine Parfümeurin des Klangs. Ihre Töne waren Duft und Geschmack, lösten ein Prickeln auf der Haut aus, als würde jede Pore atmen, sich öffnen und schließen wie tausend Türen, es war ein pulsierendes Hoffen, diese Töne aufsaugen zu können.
„Benno, hör zu!“, forderte sie manchmal, dabei war das überflüssig, weil er gar nicht weghören konnte, wenn sie spielte, sich vielmehr seine Ohren wölbten und die Klänge einfingen, bis jeder Winkel seines Körpers mit Myrina-Musik gefüllt war. Er verstand nicht, wie es funktionierte, aber erlebte wieder und wieder, dass ihre Fähigkeiten eine magische Energie besaßen. In den Momenten des Lauschens vergaß er, dass er ein Mann war, der sich für eine Frau begeisterte. Es war nur noch die Musik, die zählte, weil ihr Spiel etwas so Überirdisches verströmte, dass sich keine Erotik dazwischenschieben konnte.
Nachdem Benno als Zehnjähriger mehr schlecht als recht seinen Klavierunterricht überstanden hatte, war nicht abzusehen, dass ihn Jahre später die klassische Musik so sehr in den Bann schlagen würde. Als er Myrina kennenlernte, sehr profan beim Einkaufen – ihr war die Tasche gerissen, und er rettete gerade noch rechtzeitig mit einem eleganten Sprung eine Glasflasche mit Holunderlimonade vor dem Zerschellen auf der Straße –, waren Myrina und Benno nach zwei oder drei Sätzen sofort bei einer Diskussion über Musik, Myrina erwähnte die Sonatenhauptsatzform, als wäre das genauso notwendig wie ein guter Kaffee zum Frühstück und Benno bedauerte schlagartig, dass er seiner Klavierlehrerin früher nicht besser zugehört hatte. Alles das, was ihm Myrina schon in diesen ersten Minuten so erfrischend entgegen sprudelte wie eine schillernde Fontäne, war ihm früher langweilig erschienen.
Benno war elektrisiert, allein die Art, wie sie beim Sprechen ihre feingliedrigen Finger bewegte und damit quasi jede Silbe in die Luft malte, wirkte nahezu hypnotisch auf ihn.
Benno mochte Musik, immer schon, aber als Kind wollte er nicht stillsitzen, hatte kein Interesse am steten Wiederholen der Klavierübungen, obwohl er den Klang vom ersten Augenblick an liebte. Sein Vater konnte den Flohwalzer spielen, immerhin, mehr nicht, doch schon das hatte dem kleinen Benno imponiert. Vierhändig waren sein Vater und er bei dieser Polka über die schwarzen Tasten geflitzt und Benno hatte diese Momente geliebt.
Dennoch verlor er das Spielen bald aus den Augen. Seine Eltern sagten: „Üb schön, damit du uns etwas vorspielen kannst“, aber das waren nur Worte, ihr Interesse war für Benno nicht spürbar. Weil er dann lieber mit seinen Klassenkameraden auf den Fußballplatz wollte, kündigten sie schließlich den Unterricht, und er saß kaum noch am Instrument.
Benno hätte sich auch kein Klavier in seine Studentenbude gestellt, wenn der Vermieter nicht gefragt hätte, ob er sein Erbstück dort unterbringen könnte, ob Benno das stören würde, er dürfte es auch benutzen. Natürlich hatte er nichts dagegen; er bezahlte sogar einen Klavierstimmer.
Kurz bevor Benno Myrina kennenlernte, hatte er ausprobiert, ob ihm die Tonleitern noch gelangen, der Flohwalzer sich noch über die Tasten hüpfen ließ. Es funktionierte, ein bisschen holprig zuerst, aber die Grundlagen hatte er nicht vergessen. Benno wusste jedoch nicht, wie weitermachen und ob überhaupt. Nachdem er Myrina gesagt hatte, dass er so ein altes Piano in seiner Wohnung hätte, wollte sie ihn sofort besuchen. Benno fühlte sich überrumpelt und geschmeichelt zugleich. Das war ihm bis dahin noch nicht passiert, dass ihn ein Mädchen derart bestürmte, noch ehe es seinen Namen kannte: „Uii, kann ich bei dir vorbeikommen, das Piano würde ich mir echt gerne anschauen, wann passt es, heute noch?“

[…]


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