„Anny Bunny“ von Nina Casement


Anna ist eine Getriebene: Aufgewachsen im Berliner Plattenbau, lernt sie von klein an, sich mit dem Existenzminimum durchzuschlagen. Als ihre Eltern sterben, will sie der Armut um jeden Preis entkommen. Dafür sieht sie nur einen Weg: Pornostar zu werden. Selbstbewusst und mit unbarmherziger Disziplin stellt sie sich den Herausforderungen der Branche und vermarktet sich erfolgreich als „Anny Bunny“. Doch derweil ihr Plan aufzugehen scheint, bleiben die physischen und psychischen Narben lange verborgen. Viel zu spät wird Anna bewusst, wie sehr das zerstörerische Frauenbild der Filme ihren Alltag beherrscht. Kann der Ausstieg in ein normales Leben gelingen?

Auch Phillip kämpft mit den sexuellen Erwartungen an ihn als jungen Mann, die seine Freunde mühelos zu erfüllen scheinen. Nach außen hin eine gewöhnliche Jugend erlebend, ist er innerlich zunehmend zerrissen und verunsichert – stimmt mit ihm etwas nicht? Ist er unfähig, eine glückliche Beziehung zu führen?

„Anny Bunny“ nimmt den Leser mit auf eine Reise zu den Schattenseiten einer Industrie, die Lust verkauft, und erzählt aus zwei Perspektiven, die bislang kaum Beachtung finden.

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Kennenlernen: Nina Casement

Leseprobe
17.04.2018
Behutsam schob ich die letzte Tablette ein kleines Stückchen weiter nach rechts. Die Reihe lag trotzdem nicht parallel zu der darüber – einfach, weil es nur 99 anstatt 100 Diazepam waren. Das sah nicht hübsch aus, spielte aber keine Rolle. Als ich den unauffälligen Briefumschlag geöffnet hatte, hatte ich argwöhnisch feststellen müssen, dass die Pillen lose anstatt in Blistern verschweißt und zudem leuchtend himmelblau waren. Deshalb hatte ich letzte Woche eine von ihnen getestet. Das resultierende Gefühl war angenehm ermüdend, wattig weich und friedlich gewesen – kein Zweifel, hier war drin, was draufstand. Nun befanden sich bereits eine großzügige Portion Metoclopramid und etwas Reis in meinem Magen, keinesfalls sollte mir unerwünschtes Erbrechen den ganzen Plan versauen.
Fast ehrfürchtig legte ich die ersten beiden Tabletten auf meine Zunge und trank einen kleinen Schluck Wein hinterher. Cabernet Sauvignon aus dem Nappa Valley, Jahrgang 2012. Ein Gedicht im Abgang, halbtrocken, um meine Verdauung nicht mit zu viel Säure zu reizen. Er sollte brav hinunter transportieren, was hinunter musste. Entspannen und schlucken, das Prozedere war vertraut, das Material austauschbar. Kurz brannten meine Augen, ich meinte, ein Kratzen im Hals zu spüren. War es das? Die Katharsis? Nein, doch nicht, es verging so schnell, wie es gekommen war. Na gut, dann eben ohne Tränen. Zunächst hatte ich die beiden edlen, silbernen Kerzenleuchter auf dem Tisch platziert – es schien mir richtig und notwendig, die passende Atmosphäre für mein Vorhaben zu schaffen. Doch bereits nach wenigen Minuten war es mir einfach zu albern und aufgesetzt vorgekommen, also hatte ich sie wieder ausgeblasen. Nun glänzte allein das kühle Licht der Pendellampe auf der blanken Kastanienholzplatte meines Esstisches und beleuchtete die runden, blauen Todesbringer.
Die zweite Portion war fällig. Als ich einen Blick auf die Wanduhr warf, wurde mir klar, dass ich mein Tempo steigern musste, wollte ich noch alle hinunterbringen, bevor die Wirkung ein- und mich außer Gefecht setzte. Rasch nahm ich vier Tabletten hintereinander, atmete tief durch und schluckte sofort die nächsten vier. Abgesehen vom Notwendigen war der Tisch gänzlich leer. Eine Weile hatte ich gegrübelt, ob es angemessen gewesen wäre, einen Brief zu verfassen. Irgendetwas Erklärendes, Entschuldigendes, Erlösendes, das meinen Tod in einen sinnvollen Kontext setzen würde. Leider gab es weder einen sinnvollen Kontext noch einen Adressaten. Vielleicht hätte ich Marie schreiben sollen, für die ich immerhin etwas empfand, das Liebe noch am nächsten kam. Andererseits hatte ich ihr in den letzten Jahren nicht vermitteln können, wie ich mich fühlte – warum also sollte es mir ausgerechnet in diesem speziellen Brief gelingen?
Die Maserung der Holzplatte verschwamm ein wenig vor meinen Augen. Es wurde höchste Zeit. Unsicher grabbelte ich die übrigen Tabletten in meine hohle Hand und kippte das letzte Glas Wein auf Ex. Schade drum. Aufzustehen erwies sich als überraschend große Herausforderung. Meine Gliedmaßen fühlten sich an wie mit Blei gefüllt. Jeder einzelne Muskel war weich und wabbelig. Schön. Der Gedanke, mich einfach auf den Boden zu legen und mein Gesicht in den dichten Hochflorteppich zu schmiegen, war unglaublich verlockend. Aber das war nicht der Plan, also zwang ich mich Schritt für Schritt weiter, bevor der Drang übermächtig wurde.
„Anny Bunny bringt sich um“ – ich kicherte benommen und merkte, dass ich vielleicht schon zu lange gewartet hatte. Der Raum schwabbelte und schwankte, ich schwabbelte und schwankte, alles schwabbelte und schwankte. Eine Hand an der Wand, tastete ich mich mühsam zum Bett entlang. Meine Augen fühlten sich unfassbar schwer an, ich schielte nur noch durch einen schmalen Schlitz unter den Lidern hervor, mein ganzer Körper war warm und taub. Schön. Ganz schön. Ich kroch unter die flauschige Daunendecke, fragte mich noch, ob …

[…]


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