In der Liebe und im Kalten Krieg ist alles erlaubt.
Man schreibt das Jahr 1981, als Rasa ihr Zuhause verlässt, um in der litauischen Hauptstadt Vilnius eine Karriere im Staatsdienst anzustreben. Dabei kreuzen zwei bedeutsame Männer ihren Weg: Der umtriebige Valdas Grinfeldis, der sich als ihr Schlüssel zur Vergangenheit ihres Vaters erweist – und der gefürchtete KGB-General Rimantas Rutkus, der sie, eine junge Frau voller Ambitionen und Sehnsucht nach einem abwechslungsreichen Leben, für den sowjetischen Geheimdienst anheuert.
Währenddessen wird der Ingenieur Algirdas Montvila, auch der »Eiserne Wolf« genannt, mit einem prekären Staatsgeheimnis betraut. Sein Aufstieg in die höchsten politischen Kreise scheint damit unaufhaltsam – doch tief in seinem Innersten ist Algirdas Patriot und muss Entscheidungen treffen, die ihn an seine Grenzen bringen.
Der farbenprächtige und fesselnde Auftakt der »Eis und Bernstein«-Saga um die »Perle von Vilnius« und den »Eisernen Wolf« – eine Zeitreise in den Sowjetalltag der 1980er Jahre.
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Kennenlernen: Ira Habermeyer
Leseprobe
Winter 1982/83
Verrat. Täuschung. Lügen. Wie befreite Schatten sprangen diese Worte in Rasas Bewusstsein. Sie waren das Gegenteil davon, womit sie am Morgen aufgewacht war, und sie füllten Valdas’ Lücke.
Lautlos fielen Schneeflocken wie Flaumfedern auf das Glasdach der Sporthalle. In ihrem weißen Fechtanzug stand Rasa auf dem Linoleumboden, legte den Kopf in den Nacken und versuchte, ihren Geist frei zu machen. Ihre Hände umschlossen das Heft und die biegsame Klinge des Floretts. Sie folgte dem Tanz der Flocken aus dem farblosen Himmel und schloss die Augen. Doch alles, was sie sah, war Rache. Es musste eine Möglichkeit geben, Šedvila für ihre in Eiskristalle verwandelten Träume zu bestrafen. Könnte sie herausfinden, dass er genug Dreck am Stecken hatte, damit ihn die Partei fallen ließ, würde sie mehr als Genugtuung empfinden. Aber noch war sie nicht in der Position, einen derartigen Befehl zu erteilen und außerdem blieben ihr gewisse Akten verschlossen.
»Rasa, was ist?«, riss Jonas‘ Stimme sie aus ihrem Gedankengeflecht. »Wollten wir nicht üben?«
Langsam wandte sie sich um, blickte ihn an, setzte den Helm auf. In abwartender Kampfhaltung schätzte sie jede seiner Bewegungen ab, hob das Florett. Dann griff sie ihn an. Jonas‘ Florett stieß klirrend mit ihrem zusammen, er drückte ihre Hand herunter. Sie wandte ihre Kraft auf, ihm ebenbürtig zu sein, drehte ihr Handgelenk um. Mit einem kühnen Vorstoß versuchte sie, ihn zu Fall zu bringen, doch er war stärker als sie.
»Keine faulen Tricks, Genossin!«, lachte Jonas, wich einen Schritt zurück.
Klimpernd fiel Rasas Florett zu Boden. Sich noch elender und gedemütigter fühlend hob sie es auf. Sie sah in Jonas‘ lächelndes Gesicht, als er das Visier seines Helms hochschob.
»Du bist unkonzentriert«, stellte er fest.
»Ich hatte dich gebeten, mich nicht zu schonen«, entgegnete sie, nahm das Florett wieder auf und zerteilte die Luft mit ein paar sirrenden Hieben.
Bei dem Versuch, Jonas erneut herauszufordern, hielt sein Florett sie zurück. Er ließ es sinken. Seufzend nahm er seinen Helm ab und trat auf sie zu.
»Etwas stimmt nicht mit dir«, bemerkte er. »Was ist mit dir los?« Er sah sie derart mit seinen grünen Augen an, dass sie fürchtete, er würde die Situation ausnutzen und sie küssen.
»Nichts«, entkam Rasa mit einem gezwungenen Lächeln.
»Wenn es mit deinem Freund in seinem schwarzen Wolga zu tun hat, gäbe es jemanden, der dich aufheitern könnte.«
Trotzig schüttelte sie den Kopf. Sollte Jonas in sie verliebt sein, tat er ihr leid. So hilflos vertrackt sie in ihren Gefühlen von Valdas war, daraus konnte sie sich nicht eins, zwei lösen und das gleiche für Jonas empfinden.
»Jonas, ich mag dich«, sagte sie. »Aber als meinen Genossen schätze ich dich viel mehr.«
Ergeben hob er die Arme, kräuselte die Brauen und setzte ein schiefes Grinsen auf. »So ist das Leben«, erwiderte er. »Touché.«
Als sich Rasa umdrehte, bemerkte sie, wie Rutkus die Halle betrat. Er hatte ebenfalls den Fechtanzug angelegt, trug Florett und Helm unter dem Arm, und führte eine der bräunlichen Akten mit dem Zeichen des KGB bei sich. Beeindruckt und eingeschüchtert zugleich schluckte sie, stand stramm.
»Sie haben bereits trainiert«, sagte Rutkus anerkennend zu ihr und Jonas, pfefferte die Akte auf die Bank. Ihm gab er ein Zeichen, dass er näherkommen sollte.
So lange Rutkus ihr keinen Befehl erteilte, nahm Rasa auf der Bank Platz. Ihr Blick streifte die Kette mit dem Bernsteinanhänger, die sie aus dem Kragen ihres Anzugs hervornestelte. Zwangsläufig erinnerte sie jeder Gegenstand an Valdas, entfachte Gedanken um Gedanken, ließ ihr keinen Frieden. Sie schielte auf die Akte, doch Rutkus hatte sie mit der Rückseite nach oben auf der Bank abgelegt. Wessen Akte war das? Ihre? Würde er sie rügen, sie genauso wie Šedvila es mit Valdas getan hatte, vor die Wahl stellen? So sehr ihre Finger kribbelten, ihre Ängste wirre Spiele mit ihrem Verstand trieben, sie durfte diese Akte nicht umdrehen.
Stahl schlug auf Stahl, holte Rasas Aufmerksamkeit zurück. Mit federnden Schritten trieb Rutkus Jonas vor sich her, führte geschmeidig und elegant das Florett. Quietschend rutschten Jonas’ Füße über den Boden. Er schien nicht gewillt, sich vom General besiegen zu lassen, doch er war nicht auf dessen unberechenbaren Angriff vorbereitet. Obwohl er älter als Jonas war, stieß er flink die Florettspitze vor und zerriss mit der Klinge den Stoff des Anzugs auf der Brust. Dumpf schlug Jonas auf den Boden auf, wirkte wie ein hilfloser Käfer.
»Nu, Valaitis«, rief Rutkus, riss den Helm herunter und bot Jonas die Hand an. »Sie machen Fortschritte. Das nächste Mal gelingt es Ihnen aber besser. Abtreten.«
Leicht hinkend verließ Jonas die Halle, rieb sich den Oberschenkel und warf einen Blick zurück auf Rasa. Bereit, sich als nächstes mit Rutkus zu messen, griff sie nach ihrem Florett und stand auf. Er schritt auf sie zu, aber etwas anderes zog sein Interesse an.
»Hübsche Kette«, bemerkte er, nahm unverwandt den Anhänger in die Hand, betrachtete den warm funkelnden Bernstein im hereinfallenden matten Tageslicht. Unmittelbar stand er vor Rasa, sah sie mit seinen schmalen Augen an.
»Ja, Genosse Vorsitzender«, antwortete sie.
»Faszinierender Schliff. Nehmen Sie wieder Platz.« Lächelnd setzte er sich zu ihr, presste die Lippen zusammen. »Sie haben aus dem Gefangenen Kazlauskas einen Namen herausbekommen«, sagte er anerkennend.
»Artūras Intas.«
»Wir haben alle Anstrengungen unternommen, ihn in Litauen aufzuspüren«, erklärte Rutkus, strich sich die leicht verschwitzten Haare zurück. »In den abgelegenen Dörfern bieten sich natürlich jede Menge Versteckmöglichkeiten, zudem die Landbevölkerung misstrauisch gegenüber der Partei ist und nationalistischen Ideen aufgeschlossen gegenübersteht. Dort haben wir nur selten zuverlässige Informanten, weil die Leute zusammenhalten. Es sei denn …«
»Intas ist in London«, sagte Rasa überzeugt.
»Dessen bin ich mir auch sicher«, entgegnete er, drehte wieder den Bernstein, ließ ihn am Kettchen hin- und herschaukeln.
Sie spürte Rutkus’ Atem an ihrem Kinn. Eine Gänsehaut ließ ihren Körper erschaudern. »Falls dies sein richtiger Name ist«, bedachte sie.
Rutkus hob die Brauen. »Um das herauszufinden, müssen wir jemanden nach England schicken und in die Exilgemeinde einschleusen.« Er sah sie an, als erwartete er ihre Zusage.
[…]
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