„Großmutter kam aus Thlokerhauland – Band 1: Kindheit in der brandenburgischen Provinz“ von Sybille B. Lindt

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In kurzen Episoden und Briefen erzählt Sybille B. Lindt ihre Geschichte. In Rückblicken werden auch Lebensgeschichten und Geheimnisse der Eltern und Großeltern ans Licht geführt. Von der Provinz Posen, über die Neumark bis ins Brandenburger Land, von Danzig und Stettin nach Greifswald bis in die Lüneburger Heide führen die Spuren der Familie. Und nicht zuletzt erzählt die Autorin überaus authentisch aus ihrer Kindheit und Jugend in den 50ern und 60ern in einer brandenburgischen Kleinstadt am Rande des Oderbruchs – von Aufbaujahren und Kinderspielen, Widersprüchen und Widerstand bis zum Glück der ersten Liebe.

Ein außerordentliches Zeitdokument über ein deutsches Jahrhundertleben.

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Leseprobe

Es gibt ein Familienfoto von 1949. Darauf sind BILLA, ihre Eltern und ihre ältere Schwester Lore im Park des Schlosses Neuhardenberg zu sehen. Die Eltern sitzen auf einer Bank. Sie sehen ausgemergelt aus. Billa sitzt auf Mutters Schoss und Lore steht vor dem Vater. Alle Personen auf dem Foto sind tot. Nur ich, das kleine Mädchen mit den blonden Strubbeln auf dem Kopf, hinten zerzaust, lebe noch.
Auf dem Bild bin ich gerade ein Jahr alt und habe das ganze Leben noch vor mir. Ich sitze auf Mutters Schoss, die die Flucht von jenseits der Oder, die schlimme Nachkriegszeit mit Hunger und Typhus, und zwei schwere Geburten überstanden hat. Sie ist die Frau des Lehrers, und Vater, der meine Schwester Lore am Arm festhält, ist der Lehrer von Neuhardenberg. Er schaut wenig begeistert aus dem Bild. Er weiß, dass seine Frau ihm bald ein weiteres Kind schenken wird. Eigentlich hätte ihm die Lore schon gereicht. Aber vielleicht denkt mein Vater auch an etwas anderes, das ihm Sorge bereitet. Ein bisschen melancholisch gestimmt war er sein Leben lang.
Mutter hat mir über das neue weiße Jäckchen eine gestreifte Schürze aus grobem Leinen gebunden, die mir bis zur Brust reicht. Sie weiß, wenn ich hinfalle, werfe ich beide Arme nach hinten, statt mich vorn mit den Händen abzufangen, wie es alle anderen kleinen Kinder tun, die gerade laufen lernen. Heute soll ich mich nicht schmutzig machen. Ich schaue neugierig zu meiner großen Schwester. Lore ist heute vier Jahre alt geworden und fühlt sich ein bisschen besonders, in dem neuen Blümchenkleid mit der weißen Schürze davor und dem Röschenkranz im Haar. Und sie hat ein silbern funkelndes Kettchen zum Geburtstag bekommen. Ob ich das auch gerne hätte oder gucke ich nur, weil es so glitzert? Wir sitzen auf einer Bank in dem schönen Park des Schlosses Neuhardenberg, in dem ich vor einem Jahr geboren wurde. Weil das Schloss nun Schule ist, dürfen Lehrerfamilien, die von jenseits der Oder gekommen sind und kein Zuhause mehr haben, hier im oberen Stockwerk wohnen.
Noch weiß ich nicht, dass dies ein geschichtsträchtiger Ort ist. Einst der Freiherr von Hardenberg den Schlossbesitz wegen seiner Verdienste um die preußischen Reformen vom Koenig verliehen bekam. Sein Nachkomme Hans von Hardenberg das Schloss als Treffpunkt der Verschwörer vom 20. Juli 1944 zur Verfügung stellte, wofür er nach dem Scheitern des Hitler-Attentats enteignet und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht wurde. Er nach Kriegsende seinen Besitz zurück bekam, doch 1946 als „Junker“ wieder enteignet und mit fünf Kindern von seinem Besitz vertrieben wurde, obwohl er tatkräftige Hilfe beim Wiederaufbau des Landes angeboten hatte. Auch nicht, dass Neuhardenberg seinen Namen an Marxwalde verlor und ich jetzt in der Sowjetischen Besatzungszone lebe, all das weiß ich noch nicht. Doch das ich ein neugieriges Kind bin, das einmal viele Fragen stellen wird, nachdenkt und grübelt, das sieht man schon jetzt. Vater starb mit zweiundsechzig Jahren an Krebs, Mutter mit dreiundsiebzig an derselben Krankheit, meine Schwester Lore mit fünfundsechzig als Alzheimer-Patientin. Nur ich lebe noch.

[…]


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