Buchzitat zum Osterfest


Zwar wird schon allerorten eifrig frohe Ostern gewünscht, doch genau genommen haben wir erst Karfreitag. Bis zum Freudenausbruch ist noch ein wenig Zeit. Erst einmal sollte kurzes Innehalten und Besinnen angesagt sein, so jedenfalls die überkommene Tradition. Ich passe mich dem mit der Wahl meines heutigen Buchzitats etwas an. Es klingt gedankenschwer und weise – oder altmodisch und rückwärtsgewandt. Jeder wie er mag, in jedem Falle ist es bedenkenswert:

„In Büchern liegt die Seele aller gewesenen Zeit.” (Thomas Carlyle)

So schlicht dieser Satz klingt, so erhellend ist das Schlaglicht, das er auf eine banale Tatsache wirft: Seit Erfindung der Schrift schreiben Menschen ihre Gedanken auf. In der Sprache ihrer Zeit, mit dem Wissen ihrer Zeit, mit den ihnen eigenen Argumenten und Sichtweisen. Sie dokumentieren, protokollieren, kommentieren, interpretieren, fabulieren. Öffnen wir ein altes Buch, weht uns der Geist seiner Zeit entgegen. Zeitgeist. Die Zeilen bewahren, was ihr Autor gedacht und geglaubt hat. So steht es steht geschrieben – unabhängig ob richtig oder falsch oder was wir heute dafür halten.

Das ist schon faszinierend: Nichts ist wahr, nur weil es geschrieben steht. Obwohl wir dazu neigen, vertrauensselig zu sein. Andererseits: Wie viel Wissen ging unwiederbringlich verloren, weil es nicht schriftlich bewahrt wurde oder weil Kriege und Feuersbrünste es vernichtet haben. Geschriebene Worte treiben die Geschichte an – wie zum Beispiel nach der Erfindung des Buchdrucks, als Ideen sich in neuem Tempo verbreiten konnten. Das geschriebene Wort wird gefürchtet – wie der Index Romanus der von der katholischen Kirche verbotenen Bücher beweist. Die Liste ließe sich mühelos fortsetzen, wie Bücher für Fortschritt gesorgt oder Zwist entfacht haben. Und ziemlich oft sorgten sie gleichzeitig für beides. Wie wir alle wissen, gilt das bis heute. Scheinbar gehört das Polarisieren, das Vermischen von Wissen und Glauben, das Verwechseln von Fakten und Meinungen zu unserem Naturell. Zum Glück nicht durchgängig, auch die heutigen Bücher belegen das und werden es künftigen Generationen bezeugen.     

Thomas Carlyle (1795-1881), der Urheber des obigen Buchzitats, ist selbst ein Beispiel für die angesprochene Ambivalenz. Er war ein schottischer Historiker, Essayist und Übersetzer, beschäftigte sich intensiv mit der zeitgenössischen deutschen Literatur und sein Wort hatte im viktorianischen Zeitalter Gewicht. In seinem Weltbild jedoch war er dem Traditionalismus verhaftet, kämpfte vehement gegen demokratische Veränderungen und war Gegner der Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien. Aus heutiger Sicht unhaltbare Positionen, doch sie verankern ihn in seiner Epoche, als Figur seiner Zeit und mit Haltungen, die gottlob vor der Geschichte keinen Bestand haben konnten.

„In den Büchern liegt die Seele aller gewesen Zeit“ – ihre Genialität und Sensibilität, aber auch ihre Irrungen und Wirrungen. Vielleicht habt ihr Lust, noch ein wenig darüber nachzudenken. Oder ihr nehmt euch ein altes Buch und versucht, euch in die Lebensverhältnisse seines Verfassers hineinzudenken. Ich glaube, so weit muss man dabei nicht einmal zurückgehen. Schon die Bücher unserer Eltern spielen aus heutiger Perspektive bereits in einer fremdartigen Welt.   

Danach feiert Ostern, mit Frohsinn und Lebensfreude. Mit Familie und Freunden. Mit Sonnenschein, Osterspaziergang und Frühlingsblumen. Und mit viel Muße zum Lesen. 

Lutz vom Buch-Sonar


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