Familienglück und Winterzauber
Fünf Jahre ist es her, dass Sontje ihre Heimat Prerow auf dem Darß fluchtartig verlassen hat. Jetzt zieht sie wieder in das kleine Fischerhaus ihrer Großeltern, die sie liebevoll umsorgen und keine Fragen stellen. Doch sie weiß, dass sie irgendwann ihr Schneckenhaus verlassen und sich der Vergangenheit widmen muss. Denn seit einem Unfall mit einer Pferdekutsche sitzt ihre Mutter reglos im Rollstuhl.
Und dann ist da noch Sontjes große Liebe Florian, den sie damals ohne ein Wort der Erklärung zurückgelassen hat und der ihr nun aus dem Weg geht. Als die Adventszeit naht, scheint sich endlich alles zum Besseren zu wenden. Doch eines Tages steht ausgerechnet der Mann vor der Tür, der Sontjes Leben im letzten Jahr zur Hölle gemacht hat. Und nur er kennt ihr Geheimnis.
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Allmählich begann sich alles zu verändern. Noch konnte Sontje es nicht an Einzelheiten festmachen. Wenn, dann vielleicht am Geruch. Der Duft des Meeres schien sich in die Luft gemischt zu haben, fuhr ihr mit jedem Atemzug durch die Nase und füllte ihre Lungen. Oder bildete sie sich das nur ein?
Als sie die A 19 bei Rostock verließ, war sie sich sicher, dass ihr der Geruchssinn keinen Streich spielte. Fast schon meinte sie, das Salz auf ihrer Gesichtshaut zu spüren. Eine innere Unruhe ergriff sie.
In Berlin hatte sie das Flugzeug noch voller Zuversicht verlassen, war in ihren Mietwagen gestiegen und ohne weiter darüber nachzudenken losgefahren. Doch je näher sie dem Darß kam, umso unsicherer wurde sie.
Rövershagen. Erinnerungen an eine unbeschwerte Jugendzeit, als sie mit Lina den Erdbeerhof besucht hatte. Mit Lina und den Jungs. Sontje schluckte. Sie durfte jetzt nicht daran denken, sonst würde sie doch wieder umkehren. Sie versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie sah. Sie bog von der B 105 in Richtung Dierhagen ab und schon bald tauchte auf der rechten Seite der Bodden auf. Mit jedem Meter sank ihr Mut, das Richtige zu tun. Die Gedanken überschlugen sich. Natürlich war es richtig, wieder in die Heimat zu reisen. Schon viel zu lange hatte sie sich nicht mehr bei ihren Großeltern gemeldet. Und sie wusste, welchen Kummer sie ihnen damit bereitet hatte. Doch alles in ihr sträubte sich, wenn sie daran dachte, was mit ihrer Mutter passiert war.
Ein Auto raste an ihr vorbei, ein zweites hupte wie wild hinter ihr. Sontje blinzelte. Die Anzeige auf dem Tacho verriet ihr, dass sie im Schneckentempo fuhr. Seufzend gab sie Gas, konnte aber kaum beschleunigen. Was konnte sie denn dafür, dass sich der eine Teil in ihrem Körper weigerte, ihrem Ziel auch nur noch einen Meter näher zu kommen, während der andere vor Aufregung zitterte. Sollten sie doch an ihr vorbei fahren. Sie würde das Hupkonzert schon aushalten.
Dierhagen. Das Meer zeigte sich. Hier begann die engste Stelle zwischen Bodden und der See. Nur ein schmaler Landstrich zog sich entlang der Küste. Als Kind hatte sie oft gebangt, dass sie nie wieder die Halbinsel verlassen könnte, weil sich das Meer auch dieses Stück Land geholt hatte. Ein leichtes Schmunzeln huschte über Sontjes Gesicht. Sie atmete tief ein und aus. Die Gedanken an ihre unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit lösten ein schmales Band von ihrem Herzen. Auch wenn da noch genügend andere waren, so konnte sie doch wieder ein wenig optimistischer auf ihre Ankunft blicken.
Sie durchquerte Wustrow und gleich darauf Ahrenshoop. Wieder spürte sie die Enge in ihrem Brustkorb. Wie oft hatte sich Stine bei ihr gemeldet und gefragt, warum sie so plötzlich verschwunden war. Anfangs noch mit Sorge, dann ärgerlich und der letzte Gruß war voller Traurigkeit. Sontje schluckte. Was auch immer die Zukunft bringen würde, Stine musste sie besuchen und versuchen, ihr alles zu erklären.
Der Darßer Wald kam in Sicht. Hätten sie jetzt Hochsommer, wäre sie stehen geblieben, um den Duft der Kiefernnadeln auf trockenem Sandboden einzuatmen. Sie hätte die Sonne auf ihrer Haut gespürt und den Wind mit ihren Haaren tanzen lassen. Aber der Sommer war lange vorbei. Kalter Herbstwind tobte vor ihrer Scheibe. Die Bäume bogen sich im Wind. Auch das gehörte hierher.
Sontje spürte Übelkeit aufsteigen. Jetzt nur nicht schlappmachen. Sie wusste, dass sie nur noch einen Bogen über Born und Wieck fahren musste, dann war Prerow nicht mehr weit. Sie hatte sich vorgenommen, erst einmal anzukommen. Vielleicht suchte sie sich doch eine Ferienwohnung und machte den nächsten Schritt, wenn sie so weit war.
Und dann war sie plötzlich da. Statt eines Ortseingangsschildes entdeckte sie den Ortsnamen zu ihrer Linken auf einem kleinen Wall. Kürbisse schmückten den Hügel. Ohne weiter nachzudenken, bog Sontje links ab. Ihr Herz raste. War sie wirklich schon fünf Jahre nicht mehr hier gewesen? Nur fünf Jahre? Es hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Ihre Finger krampften sich um das Lenkrad, bis die Knöchel weiß hervortraten. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Automatisch bog sie in die Hafenstraße ab. Dabei stierte sie nach draußen, als hätte sie Angst, jemanden zu überfahren. Nur wenige Menschen huschten, in dicke Jacken gehüllt, mit Mützen auf dem Kopf und unter Kapuzen versteckt, am Straßenrand entlang. Kannte sie den Mann nicht? War das nicht eine ihrer Klassenkameradinnen gewesen? Sontje stöhnte laut auf. Was machte sie denn da? Egal, wer diese Menschen waren, sie hatte jetzt ganz andere Probleme.
Schon von weitem sah sie die wilde Hecke, die dem Garten im Sommer dicht und grün Schutz vor neugierigen Blicken bot. Jetzt ragten blätterlose Zweige in den Himmel und ließen sie trostlos aussehen. Langsam fuhr Sontje an der Einfahrt vorbei und versuchte, einen Blick auf das Haus zu erhaschen. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Dämmerung schon längst eingesetzt hatte. Die Küchenfenster waren hell erleuchtet und sie erinnerte sich noch genau an die behagliche Gemütlichkeit, die sie dort immer umfangen hatte. Sie konnte förmlich den Duft von schwarzem Tee und frisch gebackenem Apfelkuchen riechen. War da nicht eine Gestalt am Fenster? Oma Ella oder Opa Fiete? Sie hatte es nicht erkennen können.
[…]
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