„Asterion“ von Christopher Nissen


Asterion ist ein Prinz des Reiches und sein Name bedeutet „der Sternengleiche“. Er ist auch eine abscheuliche Missgeburt, dazu gezwungen, sich von Menschenfleisch zu ernähren und in einem Labyrinth unter dem königlichen Palast von Knossos dahinzuvegetieren; er amüsiert sich damit, das Palastleben durch Risse und Spalten auszuspionieren.

Jedermann im Palast ist davon überzeugt, dass er ein hirnloser Wüstling mit dem Kopf eines Stiers ist, das Produkt einer perversen Vereinigung zwischen Königin Rheia und einer mysteriösen Kreatur aus dem Meer. Asterion aber strebt nach einem erhabeneren Zustand. Von seiner eigenen Existenz verwirrt und fasziniert von dem Leben, das ihm verwehrt bleibt, erzählt er die Geschichte seiner phantastischen Geburt und dem Putsch, der das kosmische Gleichgewicht des Königinnenreiches und der Verehrung der Muttergöttin auf den Kopf stellt.

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Leseprobe

Den ersten Tag, an dem ich hier eingeschlossen war, empfand ich als Verrat. Solange ich jung und schön war, wollte ich dem Baumeister immer nachlaufen, so wie die anderen Jungen des Palastes, um mich in seiner Ausstrahlung zu sonnen und zu lernen, was auch immer er wusste. Er war so klug, stellte so gut Dinge mit seinen Händen her, währenddessen er auf Archaisch murmelnd über die Läufe der Welt sinnierte. An diesen Tagen, wenn er in der Stimmung war, in seiner eigenen Sprache zu sprechen, saßen wir gewöhnlich lange Stunden im sonnigen Innenhof zusammen, wobei ich bei jedem Wort an seinen Lippen hing.
Aber als die Geschwulste an meinem Kopf zu wachsen begannen, veränderte sich mein Leben. Ein Geflüster machte die Runde: Ich sei tatsächlich der Sohn des Bullen aus dem Meer. Plötzlich wurde ich von all meinen früheren Freunden gemieden und ignoriert, und wurde selbst von meiner eigenen Mutter vernachlässigt, was mich so bestürzte, dass ich nie die Gerüchte über den Irrgarten hörte, der unter dem Palast ausgeschachtet wurde. Ich nahm überwiegend Zuflucht bei meiner Amme Korissa, die mich immer liebhatte und die mich, davon bin ich überzeugt, noch immer liebhat. Nachdem mein Zustand offen sichtbar wurde, sprach der Baumeister nur noch bei seltenen Gelegenheiten mit mir – und nur, weil er mein Erscheinungsbild faszinierend fand, wie so ein am Strand angespültes wunderliches Etwas. Er sagte mir nie irgendetwas über das aufwendige Bauprojekt, noch nicht einmal, nachdem es fertiggestellt war. Es war tatsächlich er, der mich mit dem Versprechen einer wundervollen Enthüllung hineinlockte. Als er durch die Tür zurückhuschte und den Riegel vorschob, verstand ich endlich. Es war wahrlich ein Verrat, denn ich hatte Daidalos immer für meinen Freund und Mentor gehalten. Manchmal, wenn ich hier unten schreie, ist es deswegen.
Dessen ungeachtet, sollte ich ihm jemals noch einmal begegnen, werde ich ihm nicht das Genick brechen. Zumindest glaube ich das – in meinem derzeitigen Zustand ist schwer zu wissen, was ich tun würde, sollte ein lebender Mensch nach so vielen Jahren in diese Anlage aus Schächten, Tunneln und finsteren Gängen platzen. Ich kann dem Baumeister keinen Groll entgegenbringen, da er doch ein Archaier ist und daher seine Heimtücke und Lügen wie ein Windeltuch trägt. So wie wir Keftiu immer wieder auf unsere Kosten erneut lernen müssen, dass keinem Mitglied dieses Menschenschlags auf die Dauer vertraut werden darf.
Wir dürfen auch das Folgende über die Leute vom Festland nicht vergessen: sie sind für immer jedweder Macht gegenüber loyal, die ihnen einen Platz beim Festmahl gibt. Daidalos, einem staatenlosen Flüchtling vor seinem eigenen Volk, mag vergeben werden, weil er schlicht das tat, was sein Herr und Wohltäter ihm befohlen hatte. Selbst jetzt finde ich noch, dass ich zu viele angenehme Erinnerungen an unsere Gespräche im Innenhof habe, an vergangenen Tagen, als dass ich seinen Tod herbeisehne. Ich weiß, wen ich wirklich hassen sollte. Denjenigen, den ich entzweireißen würde, wenn ich ihn jemals in die Hände bekäme – Minos. Er war das Schwein, das mich hier einschließen ließ aufgrund der Demütigung, die meiner Mutter von den Göttern auferlegt wurde. Meine Mutter. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass ich etwas über sie schreibe; immerhin ist sie die Königin des Volkes der Göttin und göttlich aufgrund ihrer eigenen Begabung. Ich muss jedem von uns Gerechtigkeit widerfahren lassen.

[…]


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