„Wenn Schnee zu Liebe schmilzt“ von Lisa Torberg


Er verliert seine Familie, trifft wütend eine schwerwiegende Entscheidung und flüchtet aus Australien, um zu vergessen. Zwölf Jahre später holt ihn die Vergangenheit ein.

Finn McDermott lässt alles hinter sich. Seine Heimat, das Glücklichsein – und den Grund dafür, dass er seine Familie verloren hat. Anstatt Schiffsbau studiert er Medizin. Eine Arztpraxis in einem kleinen Ort in Maine passt perfekt in sein Konzept. Denn wer allein ist, kann niemanden verlieren. Kurz vor dem Ziel lässt ihn jedoch sein alter Pick-up bei Eiseskälte im Stich, der Fahrer des Abschleppwagens entpuppt sich als Frau – und schlagartig steigt seine Körpertemperatur an.

Harper Sullivans Programm an diesem Freitagabend gehört zu ihren Pflichten als Miras großer Schwester, denn sie haben nur noch einander. Doch dann klingelt der Pannenruf und die Weihnachtsdekorationen sind vergessen. Sie muss raus in die Kälte, um einen alten Pick-up mitsamt Fahrer zu retten. Einen Mann, der nicht halb so alt ist wie vermutet – und der ihr nicht mehr aus dem Kopf geht.

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Leseprobe

Finn McDermott erinnerte sich auf die Sekunde genau an den Moment, in dem sein glückliches Leben endete. Allerdings begriff er erst elf Tage später, dass dem so war. Da stand er als einziger Angehöriger vor den auf dem kurz geschorenen Rasen des Southport Lawn Cemetery nebeneinander aufgereihten Särgen seiner Familienmitglieder. Er schüttelte trockene und eiskalte, fiebrig heiße und schweißfeuchte Hände. Er hörte Hunderte von leeren Floskeln, die nicht einmal ansatzweise tröstend waren. Er ertrug das Schniefen und die weinerlichen Laute rundum und sah in tränenfeuchte Augen von Menschen, von denen er die meisten noch nie gesehen hatte. Es fühlte sich an, als ob er neben sich stünde, ihn das alles nichts angehen würde, er am falschen Ort wäre. Und er spürte absolut nichts. Bis eine Melodie erklang, eine weibliche Stimme zu singen begann – und seine Kehle eng wurde. Ihm bewusst wurde, weshalb er hier war. Er erinnerte sich nicht, dass er Mums Lieblingssong ausgesucht hatte. Aber wer sonst hätte es tun sollen? Sein starrer Blick auf die vier Särge trübte sich, und ihm wurde klar, welch riesigen Fehler er mit dieser Wahl gemacht hatte. Seine Augenwinkel wurden feucht. Tränen quollen hervor, rannen an der Nase entlang abwärts. Die Worte von Wind Beneath My Wings erschütterten ihn. Finn spürte den salzigen Geschmack auf seinen Lippen und hätte beinah aufgeschrien, denn er hatte nichts geschmeckt oder gerochen, seitdem …
Er hatte sich nicht gewundert, Gold Coasts Polizeichef zu sehen, als es, kurz nachdem er von der Kajaktour mit Touristen oben im Ortsteil Surfers Paradise der zweitgrößten Stadt des Bundesstaats Queensland heimgekommen war, an der Haustür geklingelt hatte. Brian Hanlon war einer der beiden engen Freunde seines Dads und Teil der Familie. Lange bevor er eingeschult wurde, hatte Brian ihm das Kajakfahren beigebracht. Er hatte immer zu ihm aufgesehen und sogar eine Phase gehabt, in der er unbedingt ein Polizist und wie er werden wollte. Und dann hatte Brian Hanlon, als Finn an diesem Frühsommertag mit einem fröhlichen Spruch auf den Lippen die Tür öffnete, mit einem einzigen Satz seine Welt zum Einsturz gebracht.

Brian nun rechts von sich zu wissen und seinen Schmerz zu spüren, verstärkte seinen eigenen. Dazu dieser Song von Bette Midler. Die Sonne, die vom wolkenlosen Himmel schien. Die schaumstoffartige Schutzhülle, die ihn bis vor wenigen Stunden eingehüllt hatte und die er den kleinen Pillen verdankte, wurde mit jeder Minute, die verstrich, löchriger. Den original verschlossenen Plastikbehälter hatte ihm Mums Freundin Mia Harris gegeben, deren Grundstück an das seines Elternhauses grenzte, die nun links von ihm stand. Ausgerechnet sie, die Ärztin, die auf natürliche Heilmethoden schwor und traditionelle Medizin nur im absoluten Ernstfall in Betracht zog. Seither hatte Finn die Tranquilizer eingeworfen wie Smarties – die letzten am Morgen, bevor er die schwarze Krawatte umgelegt hatte, die auf dem Bügel des Hemds gehangen hatte und von der er nicht wusste, wie sie dorthin gekommen war. Sicher hatte Mia sie gekauft, die sich mehrmals täglich über den wasserseitigen Garten Zugang zum Haus verschaffte, um ihn zum Essen und Trinken zu zwingen. Einhundert Diazepam-Tabletten hatten zehn Tage und ein paar Stunden lang sein Hirn lahmgelegt. Jetzt waren sie mitsamt ihrer benebelnden Wirkung weg – und die Realität traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers.
Mit bebenden Fingern zog er das Einstecktuch aus der Tasche des Anzugs, den er zuletzt an dem Tag getragen hatte, als Mum und Dad ihr Heiratsversprechen erneuert hatten. Sie waren so unglaublich glücklich gewesen an ihrem zwanzigsten Hochzeitstag! Finn hatte die Augen verdreht, als sie sich zum wohl hundertsten Mal küssten, und seine Schwester mit einem Zwinkern gefragt, ob die Hoffnung bestünde, dass ihre Eltern vor ihrer goldenen Hochzeit mit dieser Knutscherei aufhören würden. Sie alle hatten daraufhin gelacht, er am meisten.
Dieser dumme, schmerzvolle Gedanke ließ die Tränen noch rascher fließen. Warum musste ihm das ausgerechnet jetzt einfallen? Das Einstecktuch war klitschnass, bevor er seine Sonnenbrille aufsetzen konnte. Wozu er allerdings ohnehin nicht in der Lage gewesen wäre, da er nicht einmal die Kraft hatte, die Arme anzuheben. Das nasse Stück Stoff entglitt seinen Fingern, er sank schluchzend auf die Knie. Die Eisstarre, in die er seit der Horrornachricht gefallen war und die ihn paradoxerweise irgendwie hatte funktionieren lassen, fiel von ihm ab – und er tat, wozu er bisher nicht fähig gewesen war. Er warf den Kopf in den Nacken und schrie seinen Schmerzheraus, weil er vollumfänglich begriff, dass sein glückliches Leben zu Ende war.
Bis zum Tag des Unfalls, dessen Ursache die kriminaltechnischen Ermittler der Polizei eindeutig dem fehlerhaften Ventil der Gasflasche des Herds zuordnen konnten, woraufhin der Fall archiviert wurde, hatte er sich zumindest einmal täglich vorgestellt, von daheim auszuziehen. Um Dads nervenden Fragen zu entkommen, ob er nicht doch ein paar Wochen an einer der Jachten, die sich in der Werft der Familie im Bau befanden, arbeiten wollte, bevor er auf die Uni wechselte, um die Theorie des Schiffbaus zu studieren. Um Mums Hände, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit über seine Haare strichen, als ob er noch ein kleiner Junge wäre, nicht mehr zu spüren. Um seine nervigen Geschwister nicht ertragen zu müssen. Denn sosehr er sie liebte, hatte er mit einem Zehnjährigen und mit einer Vierzehnjährigen nichts gemeinsam. Erst recht nicht, nachdem er endlich seinen Highschoolabschluss in der Tasche hatte. Bis zum Beginn des Studienjahres im Februar konnte er die Seele baumeln lassen, als Guide für Kajaktouren mit Touristen ein paar Dollar verdienen, den Ernst des Lebens vorübergehend vergessen und den Jahreswechsel am Strand mit seiner Clique feiern. Diesen letzten Sommer, den Übergang zum Erwachsenwerden, hatte er sich verdient, war sein einziger Gedanke gewesen. Jetzt wollte er hingegen einfach nur seine Familie zurück.

[…]


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