1941 – Anne lebt in der Kleinstadt Friedeberg in Pommern bei ihren Eltern. Bei einem Badeausflug lernt sie Wilhelm kennen. Sie verlieben sich und Anne folgt ihm nach Berlin. Was Anne nicht weiß – Wilhelm ist in der Waffen-SS und arbeitet für die Gestapo. Als Wilhelm herausfindet, dass Annes Vater jüdische Wurzeln hat, kommt es zu einem brutalen Zusammenstoß und Anne flieht zu ihrer Freundin Elsie. Um zu überleben, tauchen sie ein in den kriminellen Untergrund Berlins der NS-Zeit.
1945 – der Krieg ist zu Ende. Annes Eltern und Geschwister konnten rechtzeitig aus Pommern fliehen und leben in Güstrow. Anne beschafft sich eine Reisegenehmigung und reist von Westberlin nach Güstrow.
Grenzwall ist der 4. Band einer Familiensaga.
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Kennenlernen: Detlev W. Crusius
Leseprobe
Wenn ich an meinen letzten Sommer in Friedeberg denke, sehe ich rote Füchse mit spitzen Ohren und schwarzen Schnauzen. An einem Montag war es, als sich die Viecher unter dem Zaun durchgewühlt und in unseren Garten eingedrungen waren. Gerade reckte und streckte ich mich unter meiner Bettdecke, als mir bewusst wurde, dass etwas fehlte. Draußen war es hell und der Hahn hatte nicht gekräht. Jeden Morgen stand unser Gockel auf dem Misthaufen und weckte mich mit seinem Gekrähe. Mein gefiederter Wecker. Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Fenster, sah zum Misthaufen.
Kein Gockel!
Dann sah ich das Gewusel auf dem Boden. Füchse. Drei oder vier, ein wildes Knäuel. Ich hörte ihr aggressives Knurren und kurzes Bellen. Auf dem Boden zwischen ihnen lag ein buntes Federknäuel. Der Hahn, oder was von ihm übrig war. Die bunten Federn, die schwarzen Schwanzfedern. Mit einem wütenden Schrei warf ich meinen Bademantel über und rannte zum Schlafzimmer meiner Eltern, wummerte gegen die Tür. »Vati, komm schnell. Füchse haben unseren Gockel erwischt.«
Aus dem Zimmer drang wütendes Schnauben. Ich hörte, wie sich mein Vater aus dem Bett wälzte und zur Tür geschlurft kam. Er riss sie auf und stand vor mir. Auf einem Bein. Sein Holzbein hatte er so schnell nicht anlegen können. Um nicht umzukippen, stützte er sich auf seinen Stock und hielt sich am Türrahmen fest.
»Wo?«
»Im Garten, neben dem Misthaufen.«
»Hol meine Flinte, los, mach«, und er humpelte auf einem Bein, gestützt auf den Stock, zum Fenster. Ich lief ins Wohnzimmer und holte die Schrotflinte aus dem Schrank und eine Schachtel mit Patronen. Vati stand am offenen Fenster. Die Füchse mussten ihn bemerkt haben, ließen sich aber nicht davon abhalten, die Reste unseres Gockels zu zerreißen. Vati nahm das Gewehr, klappte es auf, schob zwei Patronen in die Kammern.
»Drück das Gewehr gegen den Fensterrahmen, dann kann ich besser zielen.«
Ich drückte den Gewehrlauf gegen den Rahmen, und Vati drückte ab. Es krachte und einen Moment dachte ich, mein Kopf wäre geplatzt. Vati schoss den zweiten Lauf ab. Mit wildem Gekläffe und Geknurre verschwanden die Füchse hinter dem Zaun. Daneben geschossen! Kein Wunder, wackelig wie Vati auf einem Bein stand.
»Jetzt brauchen wir einen neuen Hahn.«
Mutti stand hinter uns, stützte sich auf ihren Stock. Sie ging sehr krumm mit ihrem Buckel.
»Was getroffen?« In ihrem harten masurischen Dialekt klang sie noch wütender.
»Den Misthaufen«, sagte Vati.
Ich blickte zur Kuckucksuhr an der Wand. »Bin spät dran, muss rasch noch die Kaninchen füttern. Was zu Essen nehme ich mit ins Amt. Hab keine Zeit.«
Ich rannte in mein Zimmer, wusch mich. Katzenwäsche. Dann zog ich mich an und ging zu der Stallseite, wo die Kaninchenställe in zwei Reihen übereinander gestapelt waren. Aus dem Schuppen holte ich den Eimer mit dem Futter. Kräuter, Reste von Stangenbohnen, Gerste und für jedes Kaninchen eine Mohrrübe. Sie begrüßten mich mit wildem Gehoppel in ihren engen Käfigen. Ich öffnete die Klappen, sechs Ställe waren im Moment belegt. Die Häsinnen hatten im Frühling nicht gut geworfen, die Hühner legten schlecht und den Hahn gab es nicht mehr. Unsere karge Landwirtschaft lief im Moment nicht so großartig.
Ich ging zurück ins Haus, und Mutti gab mir ein Päckchen mit belegten Stullen. Ich drückte sie, drückte Vati, eilte zum Schuppen und holte mein Fahrrad. Ich musste mich dranhalten, sonst war ich zu spät. Meinem Chef die Geschichte von den Füchsen und dem Hahn unter dem Gelächter der Kollegen zu erzählen, dazu hatte ich keine Lust.
Beim Radeln dachte ich an den gestrigen Sonntag. Ich hatte den Tag mit meiner besten Freundin Luise und ein paar Mädels und Jungs am Badesee verbracht. Mutti hatte mir etwas zu essen mitgegeben, die anderen hatten auch etwas mitgebracht. Wir teilten und hatten unseren Spaß. In dem Jahr war der Juni sehr warm. Wir hatten gebadet und im Wasser mit einem Ball rumgetobt.
Luise musste ich von den Füchsen erzählen. In Friedeberg hatte jeder Hühner, Ziegen, ein paar Kühe und Schweine. Luises Familie hatte viele Hühner, sie verkauften die Eier auf dem Markt. Vielleicht hatten sie einen Hahn übrig und tauschten ihn gegen ein Kaninchen. Oder einen Eimer Kartoffeln. Oder einen Eimer Milch von unserer Kuh.
Vom Frühling bis in den Herbst hatten wir viel Arbeit mit Aussaat und Ernte. Im Winter lebten wir von unseren Vorräten, den eingeweckten Früchten. Was wir nicht selber aßen, verkauften oder tauschten wir gegen das, was wir sonst zum Leben brauchten. Unser Ackerbau und Viehzucht waren wichtiger als meine Arbeit im Amt. Früher ging ich mit einem Nachbarjungen zum Angeln an den See und Mutti briet die Fische, Barsche, mal einen Hecht. Die Fische hatten viele Gräten und man war mehr mit Pulen als mit Essen beschäftigt. Eine Gräte im Hals versaute einem jeden guten Geschmack. Die Nachbarn waren dann nicht mehr da, man hatte sie in ein Arbeitslager umgesiedelt, hörte man. Nur geflüstert hieß es, sie waren Juden.
Heute Abend musste ich den Wecker stellen, damit ich zeitig wach wurde und die Kaninchen füttern konnte, bevor ich zur Arbeit ins Amt fuhr. Bisher hatte Gockel mich jeden Morgen bei Sonnenaufgang geweckt. Er krähte nicht mehr.
[…]
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