Gewalt, Sucht, Wahn, Narzissmus, Kindesmissbrauch oder einfach skrupelloser Egoismus – irrationales und manchmal auch kriminelles Handeln nach leidvoller Trennung und erbittertem Streit um die Kinder verleihen dem Wort „Familienbande“ einen Doppelsinn. Betroffene können ihre Konflikte nicht mehr selber lösen. Gerichte und Gutachter sollen oder wollen schließlich eingreifen.
In zehn spannenden Erzählungen kann der Leser tragische Verläufe verfolgen, deren Ursachen erkennen und Möglichkeiten zur Vermeidung solchen Leids ableiten. Interessieren wird ihn auch, wie der psychologische Gutachter Dr. Rother mit der feindselig verstrickten Schar ehemals Liebender umgeht. Wie kann ein Gutachter hier überhaupt helfen? Was widerfährt ihm dabei? Warum werden Gutachter zuweilen als „heimliche Richter“ bezeichnet?
Der Autor gibt Antworten auf diese Fragen in zehn Varianten dramatischen oder auch kuriosen Scheiterns beim Streben nach familiärem Glück. Parallelen eigenen Wirken des Autors als Gutachter sind nicht auszuschließen.
Prof. Harry Dettenborn ist langjähriger Sachverständiger in Familien- und Strafsachen und zertifiziert als Fachpsychologe der Rechtspsychologie sowie als Klinischer Psychologe. Über 20 Jahre hinweg war er Geschäftsführer eines Gutachter-Instituts und bis zu seiner Pensionierung Inhaber eines Lehrstuhls im Fach Psychologe an der Humboldt-Universität zu Berlin. Außerdem war er Schriftleiter der Fachzeitschrift „Praxis der Rechtspsychologie“. Er ist Autor einschlägiger Fachbücher, darunter Standardwerke wie „Kindeswohl und Kindeswille“ und „Familienrechtspsychologie“.
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Leseprobe
NARZISS IN DER GONDEL
Magdalena war Knut Oesers erstes Kind. Er war bereits 42 Jahre alt, als es geboren wurde. Mit allen Mitteln wollte er dafür kämpfen, dass es bei ihm blieb, jetzt wo die Ehe mit Helga Oeser zerbrochen war. Über welche Mittel verfügte er? Natürlich Gerichte, Anwälte, Polizei – intensiv von ihm genutzt. Vor allem aber die Kraft seiner Persönlichkeit, seine trefflichen Fähigkeiten, sich um jeden Preis durchzusetzen.
Das Haupthindernis war Helga Oeser. Sie war bei Geburt des Kindes 31 Jahre alt. Auch für sie war Magdalena das einzige Kind. Auch sie war entschlossen, dafür zu kämpfen, dass es bei ihr blieb. Das hatte sie auch schon unmissverständlich demonstriert. Schließlich hatte sie, als sie auszog, das Mädchen mitgenommen. Das war für sie selbstverständlich, egal, was es für den Vater bedeutete. Nur vage bedachte sie, dass ihr Handeln trotzdem nicht rechtens war. Dass man das mit dem Wort Kindesentführung belegen konnte, musste sie erst noch lernen.
Trennung braucht kein Drama. Hier sollte sich ein drastisches Gegenbeispiel entwickeln. Gerade mal drei Monate hatten die Oesers in dem neuen, komfortabel eingerichteten Apartment mit dem sorgsam für Magdalena ausgestatteten Kinderzimmer zusammengelebt.
Für beide Eltern war es undenkbar, sich friedlich zu einigen. Gespräche bei einem Berater verliefen ergebnislos. Frau Faßbender vom Jugendamt hatte weitgehend resigniert. In ihrem letzten Bericht hieß es: „Vernünftige Gespräche mit den Eltern sind nur schwer durchzuführen. Die Eltern konnten nicht vernünftig miteinander reden.“
Sie wollten auch nicht mehr gemeinsam für Magdalena sorgen. Das alleinige Sorgerecht war das Objekt der Begierde. Beide klagten es beim Familiengericht ein. Der Richter übertrug einstweilig der Mutter das Recht, zu bestimmen, wo sich die Tochter aufhalten soll. Was sie bestimmte, war klar. Das Kind blieb bei ihr.
„Aber sie hat das Kind skrupellos mitgenommen. Zählt das jetzt gar nichts mehr?“, beschwerte sich der Anwalt des Vaters schriftlich beim Gericht.
„Die Mutter hat das Kind bisher zuverlässig betreut und ihre Pflichten als Mutter ernstgenommen“, wurde ihm beschieden.
Und: Alle zwei Wochen durfte er das Kind ein Wochenende zu sich holen.
Das entfachte bei Knut Oeser Protest und Aktion. Er strebte ein Kirchenrechtsverfahren an, um die kirchliche Trauung für nichtig erklären zu lassen. Seine Frau habe ihn über die Eheabsicht bewusst getäuscht. Den Sinn des Ehebündnisses im kirchlichen Sinne habe sie nicht begriffen. Deshalb sei die Ehe zu annullieren. Nachdruck erfuhr sie durch einen Pastor, der eines Tages bei ihr erschien und an sie appellierte: „Es wäre gottgefällig und ein Segen für alle, wenn Sie Ihre Schuld eingestehen. Ein Schuldspruch ist sowieso nicht zu verhindern.“
In ihrem Zorn verschreckte sie den Gottesmann mit der These: „Entweder es existiert kein Gott oder er ist ein Sadist, ein Brutalo.“
Da war wohl nicht nur der pastorale Bote geschockt, denn die kirchlichen Instanzen brauchten ein knappes Jahr, um den Antrag abzulehnen.
Zugleich erhob Knut Oeser Widerspruch gegen die Beschlüsse der weltlichen Instanz Amtsgericht. Er wollte endlich das alleinige Sorgerecht, und bis dahin Magdalena viel öfter sehen.
An dieser Stelle wollte das Gericht nicht ohne ein Gutachten fortfahren. Dr. Fred Rother sollte das Richtige empfehlen. Anfangs dachte er, dass es sich um einen der nicht besonders schwierigen und langwierigen Aufträge handelt. Das Gericht wollte wissen, sollen Mutter oder Vater bestimmen, wo das Kind künftig lebt. Wie oft soll das Kind den Elternteil sehen, bei dem es nicht lebt?
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