Ein Jahr lang trauert Luise. Das Leben ohne Otto ist trist, ihre Lebensgeister sind fort.
Erst als plötzlich ein junges Kindermädchen verschwindet, wird ihr Detektivsinn geweckt und sie macht sich erneut auf den Weg zu ihrer Ururenkelin. Sabrina soll helfen, das Mädchen zu finden. Außerdem hat sie gerade einen neuen Mann kennengelernt und hofft auf gute Tipps, wie sie ihr Love Interest auf sich aufmerksam machen kann. Und auch wenn sie die bekommt – Luise wäre nicht Luise, würde sie nicht alle in den Wind schlagen und tun, was sie für richtig hält: Denn sie hat Deoroller und Damenrasierer für sich entdeckt, und ist begeistert! Mehr braucht sie nicht, um 1897 einen Mann für sich zu gewinnen.
Angelika Godau | Kindle | Taschenbuch
»Nein, bitte, das dürfen Sie doch nicht. Bitte, gnädiger Herr, bitte, so lassen Sie mich doch los. Bitte, ich will das nicht, Sie tun mir weh, bitte nicht …«
Geht das etwa wieder los? Seit Tagen schlafe ich unruhig, träume wirres Zeug, an das ich mich am Morgen nur bruchstückhaft erinnern kann. Ein Mädchen, jung, aber altmodisch gekleidet, mit auffällig roten Haaren. Augen und Mund sind weit aufgerissen, das Gesicht angstverzerrt. Irgendwie kommt mir die Situation bekannt vor, und die Erkenntnis bricht wie eine Sturzflut über mich herein: Luise! Mit derart wirren Träumen hat sie sich das erste Mal auch angekündigt. Kann es sein, dass meine Ururgroßmutter erneut auf dem Weg zu mir ist?
Es ist über ein Jahr her, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe, und ich habe sie echt vermisst. Sogar ihre Bibelzitate und ihre ständige Kritik an meinem Lebenswandel. Dabei gab und gibt es an dem überhaupt nichts zu kritisieren, es sei denn, jemand kommt – wie sie – aus dem 19. Jahrhundert. Na ja, ausgehendes 19. Jahrhundert, sie wurde 1868 geboren und kam 1895 das erste Mal zu mir. Ich lebe zum Glück heute, also im 21. Jahrhundert. Mein Name ist Sabrina Wagner, 25, ach nein, schon 26 Jahre alt, immer noch Journalistin bei einer langweiligen Tageszeitung und immer noch nicht berühmt. Genau das hatte ich mir erträumt, als sie vor einem Jahr bei mir auftauchte, um meine Hilfe bei der Aufklärung eines Mordes zu erbitten. Den Mord an ihrem Geliebten Otto von Wolfgram, Kabinettsminister des Fürsten zur Lippe. Nun, nachdem ich mich erst einmal von meinem Schock erholt hatte, haben wir den Fall aufgeklärt, und sie verabschiedete sich zurück in ihre Zeit. Leider war die Story einer nur für mich allein sichtbaren Ururgroßmutter, die durch die Zeit reisen kann, so strange, dass sie mir wohl niemand abgekauft hätte. Ich wäre eher Gefahr gelaufen, am Ende als geistig verwirrt zu gelten. Daher habe ich geschwiegen und niemandem ein Wort erzählt. Nun scheint es aber erneut so zu sein, dass Granny, wie ich sie der Einfachheit halber genannt habe, sich ankündigt. Was haben wir denn heute für einen Tag, und wie spät ist es?
Sonntag, sechs Uhr früh! Na klar, wie könnte es auch anders sein? Da habe ich alle 14 Tage mal einen freien Tag, könnte ausschlafen, und ausgerechnet den muss sie mir schon wieder einmal vermiesen. Nix ist, ich schlafe jetzt weiter.
»Ich weiß auch dieses Mal, dass du wach bist, meine Liebe, und du weißt, was ich davon halte, dem lieben Gott den Tag zu stehlen. Guten Morgen, meine liebe Sabrina, wie geht es dir?«
Ich seufze tief und richte mich zum Sitzen auf. Da ist sie in voller Lebensgröße von 1,47 Meter. Diesmal nicht in Schwarz, sondern in einem unglaublichen Kleid. Nachtblau mit großen, weißen Stickereien auf dem Rock. Dazu trägt sie zierliche beige Lederstiefelchen. Auf dem Kopf nicht mehr den schwarzen Pfannkuchen, sondern einen überdimensionalen Hut, für den bestimmt ein Marabu seine Schwanzfedern geopfert hat. Er thront souverän auf einer gewaltigen Haarpracht.
Weiße Handschuhe aus Spitze und eine ebenfalls weiße Handtasche vervollständigen das neue Bild von Granny.
Fehlt nur noch der Regenschirm, und wir hätten Mary Poppins, wie sie leibt und lebt.
»Ja, Granny, ich weiß, was du davon hältst, ist mir aber egal. Könntest du das nächste Mal nicht zu einer zivilisierteren Zeit auftauchen? So gegen elf Uhr, das würde alles vereinfachen.«
Granny grinst spitzbübisch mit leicht verzogenem Mund, damit man ihre Zahnlücke nicht sieht, und schüttelt den Kopf. »Nein, tut mir leid, das scheint nicht zu funktionieren, warum, das weiß ich nicht. Wie ist es dir ergangen, was hast du erlebt, wie geht es deinen Kindern, deiner Mam? Hast du jetzt den Herrn Cluhnie getroffen, und wie hat er dir gefallen?«
»Langsam, bitte ganz langsam, ich bin noch nicht richtig wach, und du fragst mir schon ein Loch in den Bauch. Seit wann redest du so viel? Also nein, den Herrn Clooney habe ich leider nicht getroffen, auch keinen anderen Mann fürs Leben. Ich arbeite immer noch für die gleiche Zeitung, noch nicht einmal eine Gehaltserhöhung habe ich bekommen. Den Kindern geht es gut, mein Ex nervt wie eh und je, immerhin sind meine Eltern in die Nähe gezogen. So, ich glaube, das war’s, was ich im letzten Jahr Spannendes erlebt habe. Von Ramses Attacken jetzt mal abgesehen.«
Kater Ramses ist ein Kapitel für sich. Eher ein Hund als eine Katze versteht er jedes Wort und hört auf kein einziges. Er tyrannisiert mich nach Strich und Faden, aber wenn er mit zuckerwattegleichen Schmusepfoten mein Gesicht streichelt, bin ich schnell wieder versöhnt. Er kann beißen wie ein Hai und sanft sein wie ein Lämmchen, alles innerhalb weniger Sekunden. Er kann mich nerven bis zum Gehtnichtmehr und mich trösten, wenn ich traurig bin. Hätte ich die Wahl zwischen ihm und einem Traummann, der leider keine Katzen mag – der Kater würde gewinnen. Wer das jetzt irgendwie komisch findet, der hat keine Katze!
»Okay, Granny, ich glaube, das war es an erwähnenswerten Neuigkeiten. Jetzt du. Wie ist es dir ergangen, was machst du, wo wohnst du, wie geht es deinem Heinz? Na ja, und natürlich die allerwichtigste Frage: Was machst du hier?«
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